DIE KURDENFRAGE - GESCHICHTE UND GEGENWART
 
 
KEMAL BURKAY
 
Die Kurdenfrage ist in den letzten Jahren erneut und intensiver auf die internationale Tagesordnung gekommen. Diese Frage beschäftigt seit Jahren die Länder in der Region grundlegend und führt zu ausgedehnten inneren Auseinandersetzungen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen. Um die Kurdenfrage in ihrer heutigen Dimension nachvollziehen, ist es nötig, wenn auch nur zusammenfassend, auf die geschichtlichen und geographischen Hintergründe einzugehen.
 
Sprache, Religion und Geschichte
Die Kurden sind neben den Arabern, Persern und Armeniern eines der ältesten Völker der Region. Das von ihnen besiedelte Land wird Kurdistan gennant. Die Kurden haben ihre eigene Sprache, Kurdisch. Kurdisch gehört zur indo-europäischen Sprachfamilie und gehört neben dem Persischen, Afghanischen und dem Beludischen zur Gruppe der iranischen Sprachen. Mit dem Arabischen und dem Türkischen ist Kurdisch nicht verwandt.
 
In kurdischer Sprache werden seit dem 10. Jahrhundert schriftliche literarische Werke verfaßt. Die kurdische Sprache ist eine lebendige und reiche Sprache, die sich trotz aller Unterdrückung und Verbote, denen sie ausgesetzt war, bewahren konnte. Die Zahl der in Kurdisch schreibenden Dichter, Schriftsteller und Forscher geht in die Hunderte. In kurdischer Sprache sind zig Wörterbücher und Grammatiken verfaßt worden. Auch die kurdische Folklore ist sehr reichhaltig.
 
Innerhalb des Kurdischen sind mit der Zeit verschiedene Dialekte entstanden. Der am weitesten verbreitete Dialekt ist Kurmanci. Kurmanci wird von ca. 90 % der Kurden in der Türkei sowie im iranischen und im irakischen Kurdistan in den grenznahen nördlichen Gebieten zur Türkei und von den syrischen Kurden, also von rund 60 % aller Kurden gesprochen. Mit rund 25 % folgt der Sorani-Dialekt. Dieser Dialekt wird in den mittleren und südlichen Regionen des iranischen und irakischen Kurdistan gesprochen. Zazaki ist ein weiterer, in bestimmten Regionen Türkisch-Kurdistans gesprochener Dialekt. Weiterhin werden in den drei südlichsten Teilen Kurdistans Gorani und andere Dialekte gesprochen.
 
Die große Mehrheit der Kurden, ca. 75 %, sind sunnitische Moslems, ca. 15 % alevitische Moslems. Die Aleviten sind mehrheitlich in den nördlichen und westlichen Gebieten Türkisch-Kurdistans sowie in der Region Chorasan im Iran angesiedelt. Im Iran und Irak existieren des weiteren religiöse Gruppierungen wie schiitische Kurden (Feyli) sowie die den Aleviten nahestehenden Ehlihak ("die Leute Gotttes"). In den verschiedenen Teilen Kurdistans, insbesondere in der Region, in der die Grenzen der Türkei, Irans, Iraks zusammentreffen, und in Armenien existieren yezidisch-kurdische Gemeinschaften. Das Yezidentum war eine in früheren Zeiten unter den Kurden weit verbreitete Glaubensrichtung, ihre Wurzeln reichen bis zum Zarathustra-Glauben zurück. Des weiteren gibt es in den mittleren Gebieten Kurdistans bei kleineren Einheiten einen Zweig des Christentums, die syrischen Christen.
 
Kurden haben in der Geschichte dieser Region schon seit den frühen Epochen eine wichtige Rolle gespielt. In zahlreichen griechischen, römischen, arabischen sowie armenischen Quellen finden sich dazu viele Informationen. Danach haben Kurden, abgesehen von der fernen Vergangenheit, in der islamischen Epoche in der Zeit zwischen dem 11. und 13. Jarhundert mehrere wichtige Staaten wie Scheddadiden, Mervaniden und Eyyubiden gegründet: Insbesondere der Gründer des Ägypten, Syrien und Kurdistan einschließenden Eyyubidenstaates, Sultan Salahaddin, nimmt in der Geschichte einen wichtigen Platz ein.
 
Die aus Mittel-Asien stammenden Türken sind nach dem 11. Jahrhundert über den Iran nach Anatolien gekommen und haben zuerst den Seldschuken- und danach den Osmanen-Staat gegründet. Kurdistan war lange Zeit Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen dem osmanischen und dem persischen Reich. Zu der Zeit haben kurdische Fürstentümer mal für die eine mal für die andere Seite Partei ergriffen und somit ihren Autonomie-Status bewahrt. Im Jahr 1638 jedoch wurde Kurdistan durch den Vertrag von Kasri Schirin zwischen diesen beiden Staaten offiziell aufgeteilt. Seitdem haben beide Staaten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die kurdischen Fürstentümer kriegerisch bekämpft, um sie aus der Welt zu schaffen.
 
Der Kampf der Kurden gegen diese beiden großen Staaten erhielt ab Beginn des 19. Jahrhunderts einen nationalen Charakter. Kurdische Fürsten wie Bedirchan und Yazdanschêr sowie religiöse Führer wie Scheich Ubeydullah haben für die Einheit und die Unabhängigkeit Kurdistans gekämpft, wurden jedoch besiegt.
 
Nach dem Ersten Weltkrieg ging das Osmanische Reich in die Geschichte ein, auf seinem ehemaligen Territorium entstanden neue Staaten. Nachdem am 10. August 1920 unterzeichneten Vertrag von Sévres sollte dort auch ein Staat Kurdistan entstehen. In der Folgezeit wurde dies jedoch nicht realisiert. Mit dem am 24. Juli 1923 unterzeichneten Vertrag von Lausanne wurde der zum osmanischen Territorium gehörende Teil Kurdistans noch einmal aufgeteilt. Ein Teil wurde dem englischen und französischen Mandat unterstellt, wo später Syrien und Irak entstanden. Der größte Teil Kurdistans blieb innerhalb der Staatsgrenzen der auf den Trümmern des Osmanischen Reiches gegründeten Republik Türkei.
 
Das Osmanische und das Persische Reich, die Kurdistan unter sich aufgeteilt hatten, haben zu keiner Zeit die Existens des kurdischen Volkes in Frage gestellt. Auch die Republik Türkei hatte anfänglich ihre neuen Grenzen als die "Grenzen des Misak-i Milli (Nationalpark), die die von der türkischen und kurdischen Mehrheit besiedelten Gebiete einschließen" definiert. Auf der ersten Sitzung der Großen Nationalversammlung in Ankara waren ca. 70 kurdische Abgeordnete anwesend, die offiziell als "Abgeordnete Kurdistans" bezeichnet wurden. Der türkische Vertreter Ismet Pascha erklärte in Lausanne:"Kurden und Türken stellen die eigentlichen Bestandteile der Republik Türkei dar. Kurden sind keine Minderheit, sondern eine Nation; die Regierung in Ankara ist sowohl die Regierung der Türken als auch der Kurden".
 
Nach Unterzeichnung des Lausanner Vertrages änderte sich die Politik Ankaras jedoch rasch. Die Strukturen des neuen Staates wurden gänzlich nach den türkischen Interessen gebildet. Die Existenz der Kurden wurde geleugnet. Neben der kurdischen Sprache und der Ausübung kurdischer Kultur wurden auch die Begriffe ´Kurdisch` und `Kurdistan` verboten. Die kemalistische Führung berücksichtigte die multikulturelle Struktur Anatoliens, die ein Völkermosaik darstellte, nicht im geringsten. Sie machte zum Grundstein ihrer Politik, andere Sprachen und Kulturen in die türkische Kultur einzuschmelzen und dadurch "eine einzige Nation" zu schaffen. Artikel 39 des Lausanner Vertrages, wonach die Staatsbürger der Türkei getreten und die kurdische Sprache im Erziehungs- und Pressewesen gänzlich verboten. Von Kurden zu sprechen und die Unterdrückung zu kritisieren, galt als ein schwerwiegendes Vergehen und wurde massiv bestraft.
 
Die Kurden leisteten im Jahre 1925 unter Scheich Said Widerstand gegen diese Politik. Der Aufstand wurde jedoch blutig niedergeschlagen, zehntausende von Kurde wurden getötet und vertrieben. Auch in der Folgezeit kam es zu kurdischen Aufständen. Die bedeutendsten fanden im Jahre 1930 in Ararat und 1938 in Dersim statt. Der türkische Staat hat in Kurdistan ständig Krieg geführt.
 
Nach 1938 folgte eine relative Ruhephase von etwa 20 Jahren Dauer. Allerdings ist es nicht verwunderlich, daß die Kurden, die alle nationalen Rechte entbehrten und massiven Unterdrückungsmaßnahmen unterworfen waren, die in Armut und Unwissenheit getrieben wurden und denen alle friedlichen und legalen Möglichkeiten des politischen Kampfes versperrt wurden, sich gegen die grausame Unterdrückung erneut bewaffnen. Seit 1979 regiert die Türkei Kurdistan mit Kriegsrecht, Ausnahmezustand und einem schmutzigen Krieg.
 
In den anderen Teilen Kurdistan ging eine ähnliche Entwicklung vonstatten. Die Kurden innerhalb der Grenzen Iraks, das heißt in Süd-Kurdistan, leisten seit dem Ersten Weltkrieg ebenfalls Wiederstand. Zuerst unter Scheich Mahmud Barzenci (1919 - 1923) und danach unter Scheich Ahmed Barzani und seinem Bruder Mustafa Barzani (1933 und danach) fanden Aufstände statt. Auch diese Aufstände haben die Kurden auch gewisse kulturelle Rechte erhalten. Sie bekamen Schulen, Universitäten, Radiosendungen usw. Die kurdische Kultur hat sich in diesem Teil ziemlich weit entwickelt.
 
Der größte kurdische Aufstand in diesem Teil Kurdistans begann im Jahre 1961 wiederum unter Mustafa Barzani und dauerte bis 1970. Im Jahre 1970 einigten sich die Kurden mit der Zentralregierung auf eine Autonomie. Die Regierung in Bagdad hielt die Kurden jedoch hin und ignorierte die Vertragsbestimmungen. Aus diesem Grund begann im Jahre 1975 der Krieg von neuem. Mit einigen zeitlichen Unterbrechungen dauerte er bis zum Jahre 1991 an.
 
Der Krieg gegen die Kurden ist den Irak teuer zu stehen gekommen. Um die Unterstützung der Kurden zu unterbinden, hatte das Saddam-Regime dem Iraner gegenüber zuerst Gebietskonzessionen gemacht. Um diese Gebiete zurückzuerobern, begann er danach einen acht Jahre dauernden, zerstörerischen Krieg gegen den Iran. Dabei wurde Kurdistan verwüstet und der Irak setzte sogar Giftgas gegen die Kurden ein. Nach Beendigung dieses Krieges griff er dann Kuweit an. Die Entwicklung danach dürfte jedem bekannt sein. Saddam erlitt im Krieg gegen die Alliierten eine schwere Niederlage. Die Kurden waren zunächst einer Massenvertreibung ausgesetzt, später wurde dann mit Beschluß der Vereinten Nationen eine Sicherheitszone für Kurden eingerichtet. Die Flüchtlinge kehrten in ihre Heimat zurück. Im sogenannten "Nord-Irak", also in Süd-Kurdistan, riefen die Kurden ein Parlament ins Leben und bildeten eine nationale Regierung.
 
Noch heute ist das Irak-Problem nicht gelöst. Das Land steht unter UN-Embargo, die Kurden befinden sich in einer äußerst schwierigen Lage.
 
Der Iranische Staat hat gegenüber den Kurden eine Politik der Unterdrückung, ähnlich der des kemalistischen Regimes in der Türkei, angewendet. Als nach dem 2.Weltkrieg der Iran vom Norden her von der Sowjetunion und von Süden her von England besetzt wurde, konnten die Kurden etwas Luft holen und organisierten sich rasch. Es wurde die Demokratische Partei Kurdistans gegründet, anschließend die Kurdische Republik Mahabad proklamiert. Als jedoch der Krieg vorüber war, schaffte die Regierung in Teheran, auch mit politischer Unterstützung Englands und Amerikas, die Republik Mahabad aus der Welt.
 
Der Widerstand des kurdischen Volkes hat aber nicht aufgehört. Als das Schah-Regime im Jahre 1978 zu Ende ging, konnte dieser Teil Kurdistans noch einmal die Freiheit genießen. Diese Phase dauerte allerdings auch nicht lange. Die Angriffe des neuen Regimes unter den Mollahs ließen nicht lange auf sich warten. Der aus diesem Grund 1979 begonnene bewaffnete Widerstand dauert bis heute an.
 
Zusammengefaßt hat das kurdische Volk, abgesehene von den Aufstände davor, nach dem Ersten Weltkrieg und bis in die Gegenwart in diesen drei großen Teilen Kurdistans gegen eine grausame Unterdrückung und Kolonialisierung ständig Widerstand geleistet und für die Aufrechterhaltung seiner Identität, die Inanspruchnahme seiner nationalen Rechte und die freie Bestimmung seines eigenen Schicksals gekämpft. Unser Volk hat in diesem Kampf hunderttausende von Menschen verloren, ist Opfer von Massenverteibungen geworden. Ihm ist viel Leid zugefügt worden. Hier liegt in der Tat ein Völkermord vor. Doch leider sind sowohl die Völkergemeinschaft als auch die Organisation der Vereinten Nationen bei dieser Tragödie unseres Volkes ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden und haben den Geschehnissen nur zugeschaut.
 
Geographie und Bevölkerung
Die Zahl der Kurden in den vier Teilen Kurdistans und innerhalb der Grenzen der vier Teilungsländer beträgt insgesamt ca. 35 Millionen. Somit sind Kurden ihrer Zahlen nach neben Arabern, Türken und Persern eine der vier großen Nationen im Nahen Osten.
 
Das seit jeher von Kurden besiedelte Kurdistan ist mit 500.000 qm Fläche so groß wie Frankreich. Mit anderen Worten bilden Kurden in ihrem Land keine Minderheit, sondern die Mehrheit. Die Kurdenfrage ist nicht ein Minderheitenproblem dieses oder jenes Landes, sondern die Frage eines geteilten Landes und einer Nation. Wie alle anderen Nationen haben auch die Kurden das Recht auf Selbstbestimmung.
 
Die Grenzen, die Kurdistan teilen, sind weder natürliche, wirtschaftliche noch kulturelle Grenzen. Es sind künstliche Grenzen, die gegen den Willen des kurdischen Volkes nach den Interessen der Teilungsmächte und des Machtgleichgewichts gezogen wurden. Sie haben oft Dörfer, Städte, ja sogar Familien voneinander getrennt und sich auf das wirtschaftliche soziale und kulturelle Leben spaltend und destruktiv ausgewirkt.
 
Der größte der Teile Kurdistans, der nach Einwohnerzahl und Fläche zugleich annähernd die Hälfte seiner Gesamtheit ausmacht, liegt im Norden innerhalb der Staatsgrenzen der Türkei. Dieser Teil bildet ein Drittel der Gesamtfläche der Türkei und umfaßt in den "östlichen und nordöstlichen Regionen" über zwanzig Provinzen. Andere Teile sind, nach Größe, Ost-Kurdistan (innerhalb der Grenzen Irans), Süd-Kurdistan (innerhalb der Grenzen Iraks) und kurdische Gebiete innerhalb der Grenzen Syriens.
 
In allen diesen Teilen ist eine große Einwohnerzahl von Kurden zu verzeichnen, die 80-90% beträgt. Ein gewisser Teil von Kurden lebt seit frühen Zeiten oder aufgrund der Migrations- bzw. Fluchtbewegungen der letzten Zeit in anderen Regionen und den Metropolen der jeweiligen Länder. Zieht man auch diese in Betracht, so leben innerhalb der Staatsgrenzen der Türkei 18-20 Millionen, des Iran 8-10 Millionen, des Irak 5 Millionen und Syriens 1,5 Millionen Kurden.
 
Rund ein Drittel der Arbeitsimmigranten aus der Türkei, die in den letzten 20-30 Jahren in die europäischen Länder eingewandert sind, sind Kurden. Wenn man noch die Zahl der Kurden aus der Türkei und anderen Teilen Kurdistans dazurechnet, die in den letzten Jahren aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nach Europa geflüchtet sind, so beträgt die Zahl der in europäischen Ländern lebenden Kurden rund 1 Million. Aufgrund von Migration und Flucht sind auch in Nord-Amerika und Australien solche kurdischen Gemeinschaften entstanden.
 
Natürliche Ressourcen, wirtschaftliche und soziale Strukturen
 
In bezug auf Bodenschätze ist Kurdistan eines der reichsten Länder der Erde. Die seit früheren Zeiten als "Fruchtbarer Halbmond" bekannte Zone, die von den Zagrosgebiergen bis ans Mittelmeer reicht und auch Nord-Mesopotamien einschließt, befindet sich größtenteils in Kurdistan.
 
Kurdistan ist reich an Landwirtschaft. Die Ebenen zwischen den Bergketten, insbesondere im warmen Süden, sind wegen der Bodenarten und den günstigen klimatischen Bedingungen sehr gut geeignet für Landwirtschaft. Die Hochebenen und Berghänge haben äußerst fruchtbares Weideland. Auf den Böden Kurdistans wachsen alle Getreidesorten sowie hochwertiges Obst und Gemüse. Die Harran-Ebene sowie Gebiete um Cezire und Mossul sind Getreidereservoirs der gesamten Region.
 
Temperatur- und Höhendifferenzen zwischen dem Norden und dem Süden haben dazu geführt, daß Kurdistan schon immer ein wichtiges Viehwirtschaftsland war. Desweiteren ist Kurdistan für den Nahen Osten ein Reservoir für Fleisch, Butter, Käse, Wolle und Tierfelle.
 
Kurdistan ist hinsichtlich Erdölvorkommen und anderen Mineralstoffen ein sehr reiches Land. Ein großer Teil der Erdölquellen Iraks befindet sich in Kurdistan, in den Regionen um Kirkuk und Hanikin. Ein Teil der wichtigen Erdölquellen Irans sind ebenfalls in ausschließlich in Kurdistan (Region um Batman, Diyarbakir und Adiyaman). Auch Syriens Erdölquellen sind hauptsächlich in Kurdistan in der Region um Cezire. Daneben ist unser Land reich an Bodenschätzen wie Eisen, Kupfer, Chrom, Kohle, Silber, Gold, Uran und Phosphat.
 
Weiterhin gibt es in Kurdistan Flüsse, die mindestens so wichtig, wenn nicht noch wichtiger als der Erdöl sind. Die Hochebene und Berge Kurdistans, die durch hohe Niederschläge und im Winter eine hohe Schneedecke gekennzeichnet sind, sind für den Nahen Osten das Wasserreservoir. Hier entspringen neben den berühmten Flüssen Euphrat und Tigris Ebene zahlreiche weitere kleinere Flüsse. Euphrat und Tigris beleben neben der Mesopotamien-Ebene und dem südlichen Teil Kurdistans Irak Syrien mit Wasser. Diese aus drei- bis viertausend Meter Höhe hinabfließenden Flüsse sind gleichzeitig auch für die Energiegewinnung sehr bedeutsam. Irak und Syrien haben an diesen Flüssen oder an deren Nebenflüssen zahlreiche Staudämmen, die von der Türkei im Rahmen des GAP-Projektes (Südostanatolienprojekt) gebaut sind. GAP ist ein Projekt, das noch nicht abgeschlossen ist und schon jetzt einen wichtigen Teil des elektrischen Energiebedarfes der Türkei abgedeckt. Mit dem Abschluß des Projektes wird einerseits der Vorrat an elektrischen Energiebedarfs der Türkei abdeckt. Mit dem Abschluß des Projektes wird einerseits der Vorrat an elektrischer Energie und andererseits durch Bewässerung dieses Teiles von Kurdistan die landwirtschaftliche Produktion um ein Vielfaches steigen.
 
Kurdistan lag im Altertum und Mittelalter auf der Handelsstraße zwischen Fernost und Europa (Seiden- und Gewürzstraße). Auch in der jüngeren Vergangenheit wurde diese Bedeutung aufrecht erhalten. Interessanter weise ist Kurdistan heute die günstigste Region für die Erdöl-Pipe-Lines des Irak und des Kaukasus.
 
Der außerordentliche Reichtum Kurdistans und seine strategische Lage sind gleichzeitig der wichtigste Grund dafür, daß unser Land geteilt gehalten und unserem Volk so großes Leid zugeführt wird. Aus den genannten Gründen hat Kurdistan im 18. und 19. Jahrhundert die Aufmerksamkeit westlicher Kolonialstaaten auf sich gezogen. Engländer, Franzosen und Russen haben um unser Land gerungen. Dann haben sie es nach dem Ersten Weltkrieg entsprechend ihren eigenen Interessen noch einmal aufgeteilt.
Die Russen hatten sich nach der Oktober-Revolution 1917 aus der Region zurückgezogen. Engländer und Franzosen haben mit der Unabhängigkeit Syriens und Iraks die Region administrativ verlassen. Jedoch bestehen ihre wirtschaftliche Beziehungen in ihr Einfluß in der Region weiter.
 
Neben der Republik Türkei und dem Iran haben auch die neu gebildeten nationalen Führungen in Syrien und Irak alles Nötige getan, um den ihnen zugesprochenen Teil Kurdistans unter Kontrolle zu halten und die Kurden zu assimilieren und auszurotten. Sie haben kurdische Aufstände brutal niedergeschlagen. In diesem Zusammenhang haben die meistens zusammengehalten und Vereinbarungen getroffen. Die Reichtümer Kurdistans haben sie geplündert, seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung verhindert.
 
Daher muß unser Volk auf diesem reichen Land in Armut leben. Diese kolonialistischen Bedingungen, die ständige Unsicherheit und der Krieg haben die Entwicklung unseres Landes in der Landwirtschaft, im Handel und in der Industrie verhindert. Das in Kurdistan erwirtschaftete Kapital ist stets außer Landes geflossen. Die Gesellschaft konnte sich nicht modernisieren, die Feudalstrukturen der Vergangenheit sind nicht gänzlich aufgelöst worden. Die Stammesstruktur in der ländlichen Gebieten, das Großgrundbesitzertum und die damit einhergehenden religiösen Strömungen sowie die Institution des Scheichtums (Scheich: Rel. Oberhaupt) haben sich erhalten. Heute noch befindet sich Kurdistan in einem halbfeudalen System noch keine große Bedeutung.
 
Die schmutzigen Kriege, die die jeweiligen Kolonialstaaten führen, um die seit 1961 in Süd-Kurdistan (Irak), seit 1979 in Ost-Kurdistan (Iran) und seit 1984 in Nord-Kurdistan anhaltenden kurdischen Partisanenkriege und Volksaufstände niederzuschlagen, sind für unser Land verheerend gewesen. Angesichts dieser Situation, in der alles brutal zerstört wird und die Menschen in Massen flüchten, weil sie um ihr Leben fürchten, wirtschaftliche und soziale Fortschritte zu erwarten, wäre lächerlich.
 
Warum hatte die kurdische Widerstandsbewegung bis heute keinen Erfolg ?
 
Das 20. Jahrhundert war Zeuge des Untergangs des weltweiten kolonialistischen Systems und der Gründung neuer Staaten in ehemaligen Kolonien und abhängigen Ländern. Warum haben die Kurden, die eine alte Geschichte und reiche Kultur besitzen, obwohl sie seit Beginn des 19. Jahrhunderts stets Widerstand geleistet haben und einen hohen Preis zahlen mußten, nicht die Freiheit erlangt?
 
Das hat interne und externe Gründe. Die feudale Zersplitterung in der kurdischen Gesellschaft ist solch ein interner Grund. Die Stammesstruktur, Spaltung in religiösen Strömungen und Konfessionen sowie die Großgrundbesitzer- und Scheich-Institution bildeten zu jeder Zeit Hindernisse für die Einheit nationaler Kräfte. Die mittelalterlichen Wertvorstellungen dieses System haben dazu geführt, daß sich ein nationales Bewußtsein nur mangelhaft ausbilden konnte.
 
Jedoch sind dies nicht die eigentlichen Gründe. Es darf nicht vergessen werden, daß auch zahlreiche Nationen in Asien und Afrika, die ihre Freiheit erlangt haben, in Bezug auf das wirtschaftliche und soziale System rückständig, oft sogar im Vergleich zu den Kurden rückständiger waren. Die eigentlichen Gründe, die den Erfolg der kurdischen Nationalbewegung verhindert haben, sind externe.
 
Anfangs haben Kurden gegen zwei Großreiche, das Osmanische und Persische, gekämpft. Das Kräftegleichgewicht war zum Nachteil der Kurden und sie hatten keinerlei durch die Unterstützung von außen. Jedoch haben beispielsweise die Balkanländer ihre Unabhängigkeit durch die Unterstützung mächtiger westlicher Staaten wie Rußland, Österreich, England und Frankreich erlangt. Engländer und Franzosen waren es auch, die Arabien vom Osmanischen Reich getrennt haben. Eben diese Mächte haben in Vereinbarungen mit der Regierung in Ankara Kurdistan erneut aufgeteilt.
 
Die dem Ersten Weltkrieg folgenden Aufstände der Kurden wurden außer von der Türkei und dem Iran auch von den Franzosen und den Engländern, die Syrien und Irak unter ihrem Mandat hatten, bekämpft. Insbesondere die Engländer haben den nationalen Austand der Kurden im Irak mit ihren eigenen Kräften niedergeschlagen.
 
Nachdem Syrien und Irak ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, sah sich die kurdische Nationalbewegung der Allianz dieser vier Staaten gegenüber. Einer der ungünstigen Effekte ist, daß das kurdische Land von diesen vier Teilungsstaaten, also von gegnerischen Mächten, eingeschlossen ist. Die Kurden haben weder über das Festland noch über Meere Verbindung nach außen. Es ist sehr schwierig, mit der Außenwelt Kontakte herzustellen. Auch wenn es befreundete Kräfte geben sollte, die den Kurden von außen helfen wollten, bestehen keine Wege oder Zugänge, über die diese Unterstützungen direkt nach Kurdistan gelangen könnte. Wenn die kurdische Nationalbewegung in irgend einem Teil zum Stützpunktgebiete oder logistische Unterstützung zu erhalten. Gerade dieses, oder ein anderes, Nachbarland ist jedoch einer der vier Staaten, die einen anderen Teil Kurdistans unter ihrer Kontrolle halten. Keiner von ihnen ist an einem Sieg von Kurden interessiert. Diese Staaten spielen lediglich die kurdische Karte gegeneinander aus, wenn sie von Zeit zu Zeit Probleme miteinander haben. Gerade das macht die kurdische Frage, die ohnehin kompliziert genug ist, noch komplizierter. Solche Beziehungen sind für die kurdische Nationalbewegung höchst problematisch und bringen kurdische Organisationen von Zeit zu Zeit in die Lage, sich sogar gegenseitig zu bekämpfen.
 
Im übrigen hat die kurdische Nationalbewegung zu keiner Zeit eine tragfähige internationale Unterstützung gehabt. Der wesentliche Grund dafür ist, daß große und auch kleinere Staaten, die in dieser Frage nicht direkt Parteien sind ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen und sich nicht gegen die vier Staaten in der Region (Türkei, Irak, Iran und Syrien) stellen wollen.
 
Was ist die Lösung?
Die Kurdische Nationalbewegung hat aus all den genannten Gründen keinen Erfolg erzielt. Andererseits haben auch die betreffenden vier Staaten es nicht geschafft, die Kurden einzuschmelzen und aus der Welt zu schaffen. Im Gegenteil: Das kurdische Nationalbewußtsein hat sich von Jahr zu Jahr gefestigt und unter Überwindung gewisser feudaler Hindernisse hat es einen Massencharakter erlangt. Die kurdische Nationalbewegung hat sich organisiert, sie schließt alle gesellschaftlichen Klassen und Schichten ein und die Kurden in den verschiedenen Teilen sind sich näher gekommen. In allen diesen Ländern ist der kurdische Widerstand stärker geworden und in den drei großen Teilen hat er die Form des bewaffneten Widerstandes angenommen, den niederzuschlagen einfach nicht gelingt.
 
Die kurdische Identität zu leugnen, Kurden ihre Rechte nicht zuzugestehen und die Unterdrückungspolitik gegenüber den Kurden kommt auch die beteiligten Ländern sehr teuer zu stehen. Die Regierungen der Türkei, des Irak und Iran müssen ständig Krieg deswegen führen. Dieser Krieg verschlingt ihre Finanzressourcen und kostet Menschenleben. Unter diesem Aspekt ist der Irak, der praktisch mit einer Teilung konfrontiert ist, das interessanteste Beispiel. Aber auch in der Türkei ist die Lage nicht rosiger als im Irak.
 
Die Unterdrückungspolitik gegenüber den Kurden ist für die Türkei das größte Hindernis für die Demokratie und inneren Frieden. Eine der Hauptursachen für die häufigen Militärputschs in der Türkei ist die Kurdenfrage. Der seit 11 Jahren gegen das kurdische Volk geführte schmutzige Krieg verschlingt die Ressourcen. Die Türkei tätigt jährlich 8 - 10 Milliarden direkte Kriegsausgaben. Außerdem verzeichnet der Tourismussektor aus diesem Grund große Verluste. In Kurdistan ist die Wirtschaft gänzlich lahmgelegt; Landwirtschaft, Handel und Viehwirtschaft sind zusammengebrochen.
 
Es ist ein Stadium erreicht, in dem die Kurdenfrage in der Türkei eine ernsthafte wirtschaftliche und politische Krise herbeigeführt hat. Die Gewalt überzieht das gesamtgesellschaftliche Leben wie ein Netz. Der chauvinistisch geprägte Nationalismus und der Militarismus nehmen stark zu.
 
Regierung und offizielle Stimmen lasten die Verantwortung für die mißliche Lage nach wie vor der PKK an, der sogenannten "Handvoll Terroristen". Die Hauptverantwortliche für die heutige Misere und all das Leid, das beiden Völkern zugefügt wird, ist jedoch der türkische Staat selbst. Der Punkt, der heute erreicht ist, ist das Produkt einer falschen Politik, die seit 70 Jahren praktiziert wird.
 
Es besteht kein Zweifel daran, daß dieses Problem nicht durch die Armee und die Polizei zu lösen ist. Durch Dialog und die Anerkennung kurdischer Rechte ist eine friedliche Lösung möglich, und die liegt im Interesse beider Völker. Damit könnten im Land Frieden und Demokratie Einzug halten und die ganze Türkei und Kurdistan könnten in eine Entwicklungsphase eintreten.
 
In den letzten Jahren kritisieren vernünftige Kreise die seit 70 Jahren mit Nachdruck verfolgte Politik, die keinem etwas gebracht und das Land zunehmend in eine Sackgasse geführt hat, immer mehr und setzen sich für eine friedliche Lösung ein. In Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkreisen, bei den Intellektuellen und den Medien findet diese Haltung immer mehr Zustimmung. Auch die internationale Situation drängt die Türkei zu einem Kurswechsel.
 
Die Kurdenfrage hat sich in den letzten Jahren von einem Regionalproblem zu einem internationalen Problem entwickelt. In diesem Zusammenhang ist der Beschluß der Vereinten Nationen zum Schutz der irakischen Kurden außerordentlich wichtig. Die Türkei, die in die Europäische Union aufgenommen werden will, muß das politische und kulturelle Leben an die europäische Standarts anpassen und die internationalen Vereinbarungen, die sie unterzeichnet hat, praktisch umsetzen.
 
Meine Folgerung aus dem bisher Dargelegten ist, daß die Lösung der Kurdenfrage, trotz der schlechten aktuellen Lage, näherrückt. Um eine friedlich Lösung umgehend zu ermöglichen, müssen auf nationaler und internationaler Ebene die Friedensinitiativen verstärkt werden.
 
Die Sozialistische Partei Kurdistans, zu der ich gehöre, tritt für eine friedliche und gerechte Lösung ein. Trotz all der Unterdrückung und Provokationen, denen das kurdische Volk ausgesetzt war und ist, haben wir uns von Anfang an für politische und friedliche Methoden des Kampfes entschieden. Unserer Ansicht nach ist das friedliche Zusammenleben beider Völker möglich und unsere Partei schlägt dafür eine Föderation vor. Wir können Lösungen finden ähnlich wie in Spanien, Belgien, oder in der Schweiz. Was die Türkei für die hunderttausend Türken auf Zypern fordert, sollte sie auch innerhalb ihrer Grenzen der kurdischen Nation mit ihren 20 Millionen Menschen zuerkennen.
 
Dafür müssen jedoch zu allererst auf beiden Seiten die Waffen schweigen und Verhandlungen eingeleitet werden.
 
Auch in anderen Teilen Kurdistans ist unserer Ansicht nach die Lösung des Problems auf friedliche Art möglich. In allen Teilen müssen die Existenz und die Rechte des kurdischen Volkes respektiert werden, auf Basis der Gleichberechtigung müssen föderative Lösungen gefunden werden.
 
Die Frage nach der Einheit der kurdischen Nation ist eine Frage der Zukunft. Ich glaube, in Zukunft wird auch die Nahost-Region sich stark verändern. Die heutigen despotischen, unterdrückerischen und primitiven Regimes werden gehen, das Verhältnis zwischen den Völkern wird sich bessern und es wird eine Phase der Annäherung, ähnlich wie in Europa, geben. Die Grenzen werden ihre Bedeutung verlieren.                                             1997

 
Zur Situation des kurdischen Volkes im europäischen Jahr gegen Rassismus
 
 
Die Europäische Union hat das Jahr 1997 zum Jahr der Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit erklärt. Dies war eine notwendige und überaus wichtige Entscheidung. Wir begrüßen sie.
Obwohl nunmehr bereits halbes Jahrhundert seit dem Niedergang des Faschismus in Europa vergangen ist, bleiben leider Fremdenfeindlichkeit und Rassismus traurige Bestandteile des Alltags in Europa. Die Facetten solcher Strömungen sind breitgefächert. Sie können sich richten gegen Menschen anderer Hautfarbe, gegen Ausländer, Zuwanderer, Asylbewerber, oder einfach nur gegen ethnische Gruppen, die eine andere Sprache sprechen oder einer anderen Glaubensrichtung angehören. Tätliche Übergriffe, Mißhandlungen und Brandlegungen sind hierbei sicherlich nur Extremfälle, die man nicht verallgemeinern sollte. Trotzdem machen sie deutlich, welchen Sumpf es noch auszutrocknen gilt. Und: Fast noch schlimmer sind tagtägliche, sublime und für die Betroffenen schmerzhafte Diskriminierungen und Zurücksetzungen. Wenn solche Abgrenzungstendenzen und xenophobe Strömungen sogar auf die Regierungspolitik einzelner Länder durchschlagen, ist höchste Vorsicht angebracht. In solchen Situationen müssen demokratische und auf Ausgleich bedachte Kräfte ihre Stimme erheben und zur Wachsamkeit aufrufen.
 
Es gilt, die Entscheidung der Europäischen Union mit Leben zu füllen. Soll sie nicht nur auf dem Papier stehen, muß die Öffentlichkeit intensiv über die Folgen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufgeklärt und auf die Gefahren eines nicht frühzeitigen Unterbindens solcher Strömungen hingewiesen werden.
 
Dies ist der Hintergrund, vor dem wir auf die heutige Situation des kurdischen Volkes eingehen wollen. Das kurdische Volk ist eines der Völker, das aufgrund seiner geographischen Lage, seiner Sprache und Kultur seit Jahrhunderten immer wieder Opfer von Rassismus und auch Fremdenfeindlichkeit wurde. Am meisten betroffen hiervon waren seit jeher die in der Türkei lebenden Kurden. Die schlimmsten Verhältnisse und massivsten rassistischen Praktiken herrschen in der Türkei, einem Land, das Mitglied des Europarates sowie der Europäischen Zollunion ist, und beabsichtigt, unter den herrschenden Bedingungen Vollmitglied der Europäischen Union zu werden. Insofern betrifft dieses Problem auch Europa, ist geradezu ein innereuropäisches Problem.
 
Die Kurden gehören zu einem der ältesten und zahlenmäßig größten Völker im Nahen Osten. Kurdistan ist flächenmäßig so groß wie Frankreich. Dieses Land ist aufgeteilt unter der Türkei, dem Iran, Irak sowie Syrien. Die Gesamtzahl der Kurden im Nahen Osten wird auf rund 35 Millionen geschätzt. Davon leben ca. 25 Millionen in ihrer historischen Heimat Kurdistan. Der größte Teil der restlichen 10 Millionen lebt infolge der Vertreibung, dem Krieg und der Migration in anderen Gebieten der genannten Staaten sowie in benachbarten Ländern oder in der Diaspora, darunter auch in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. In den europäischen Staaten leben zur Zeit nach Schätzungen ca. 1 Million Kurden als Arbeitsimmigranten und Flüchtlinge.
 
Kurden genießen leider in keinem der genannten Staaten die Freiheit. Ihnen wird das Recht auf die Selbstbestimmung, das von allen kleinen oder großen Nationen in Anspruch genommen wird oder werden sollte, nicht zuerkannt. Die Staaten, die die Reichtümer Kurdistans für sich nutzen, verbieten den Kurden ihre Sprache sowie das Bekenntnis zu ihrer Kultur. Unterricht in Kurdisch, Zeitungen oder Fernsehsendungen in ihrer Sprache, ja sogar teilweise das Hören ihrer Musik wird ihnen verweigert. Die Staaten verfolgen das Ziel, die Kurden zu assimilieren, und zwar im Irak zu Arabern, im Iran zu Persern und in der Türkei zu Türken.
Die Türkei ist zur Zeit das Land, in dem die massivsten Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Kurden praktiziert werden. Die Republik ist auf der Grundlage eines rassistischen Weltbildes entstanden. Aus diesem Grunde ist ihre Geschichte von einem extremen Nationalismus und Rassismus gekennzeichnet, die sich gegen andere Völker und ethnischen Gruppen außer den Türken richten.
 
 
Ethnische Säuberungen und Genozid
 
Das Osmanische Reich, konnte neben Anatolien jahrhundertelang den Balkan, Arabien und Kurdistan unter seiner Herrschaft halten. Die Hohe Pforte schlug in seinem Herrschaftsbereich den Widerstand all der Völker gegen die Repressalien und die Ausbeutung mit kolonialistischen Methoden nieder, bekämpfte sie in ihrem Bestreben nach Unabhängigkeit. Diese Politik der Osmanen war jedoch nicht von einem rassistischen oder nationalen Verständnis geprägt. Die Existenz der Völker wurde nicht verneint, deren Sprache, Religion oder andere Unterscheidungsmerkmale wurden bis zu einem gewissen Grad respektiert. Diese Politik änderte sich mit dem Aufkommen des türkischen Nationalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Türkische nationalistische Kräfte übernahmen in der Endphase des Osmanischen Reiches die Macht und gründeten im Jahre 1923 die Republik Türkei. Schon Ende des 19. Jahrhunderts und während des 1. Weltkrieges begannen diese Kreise mit einer großen ethnischen Säuberung gegen andere Völker und führten sogar Pogrome durch, um das Land innerhalb der Grenzen der heutigen Republik gänzlich zu türkisieren.
 
Der Völkermord an den Armeniern während des 1. Weltkrieges kostete bis zu einer Million Menschen das Leben und genauso viele wurden zwangsdeportiert. Nach dem Krieg waren die Armenier in der Türkei nur noch eine verschwindend kleine Minderheit, wobei die meisten von ihnen in Istanbul lebten. Auch in Istanbul und in den westlichen Küstengebieten lebenden Millionen von Griechen wurden nach dem türkisch-griechischen Krieg, der dem 1. Weltkrieg folgte, dezimiert. Sie wurden gezwungen, Anatolien und Thrazien zu verlassen. Die verbliebene griechische Minderheit in Istanbul hielt den staatlichen Repressalien nicht mehr stand und verließ schließlich auch das Land.
 
Die türkische Administration hat mit einer gezielten Politik die Armenier- und Griechenfrage durch Genozid und Vertreibung beseitigt. Innerhalb der heutigen Grenzen blieben muslimische Minderheiten wie die Lasen, Tscherkessen, Araber sowie die Kurden. Gegenüber diesen Völkern begann der Staat eine massive Assimilationspolitik. Alle anderen Sprachen und Kulturen außer der türkischen wurden verboten, eine systematische Türkisierungspolitik wurde zum erklärten Ziel.
 
Lasen, Tscherkessen und Araber lebten verstreut in unterschiedlichen Siedlungsgebieten und bildeten dort jeweils nur eine kleine Minderheit. Daher konnten sie dieser Assimilationspolitik nicht standhalten. Kurden jedoch bildeten in ihrer Heimat die überwiegende große Mehrheit. Der Innerhalb der Grenzen der Türkei verbliebene Teil Kurdistans umfaßt rund ein Drittel des Staatsgebietes. Die Kurden hatten ihre ethnische Identität erlangt und widersetzten sich daher gegen diese Politik. Schon zu Zeiten des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert führten Kurden einen ständigen Kampf um ihre Unabhängigkeit. Von Osmanen und dem Iran zugleich bedrängt, erlitten sie jedoch immer wieder Niederlagen. Sie wehrten sich auch nach der Gründung der Republik Türkei gegen die Türkisierungspolitik und forderten ihre nationalen Rechte. Aus diesem Grund fanden allein nach der Republikgründung über zwanzig kurdische Aufstände statt. Der erste und zugleich einer der größten war der Aufstand von Scheich Said im Jahre 1925, bei dem die Kurden ihren Willen zur Unabhängigkeit bekundeten. Alle Aufstände wurden jedoch vom türkischen Militär blutig niedergeschlagen. Die Kurden, umgeben von den Staaten, die ihr Land unter sich aufgeteilt hatten und ihnen gegenüber feindlich gesinnt waren, hatten ohne Unterstützung keine Chance. Daher wurden sie jedesmal besiegt. In den irakischen und iranischen Teilen Kurdistans herrschten die gleichen Verhältnisse. Das Aufbegehren des kurdischen Volkes hat aber nicht aufgehört und wird noch heute in diesen drei Staaten weitergeführt.
 
 
Die Türkei mißachtete den Lausanner-Vertrag
 
Die Politik der Zwangsassimilation und des Leugnens der Existenz von Kurden verstößt auch gegen den Lausanner Vertrag vom 24. Juli 1923, auf dessen Fundamenten die Republik Türkei aufgebaut wurde. Die Vertreter der türkischen Seite während der Lausanner Konferenz hatten die Existenz der Kurden nicht in Frage gestellt oder geleugnet. Der Verhandlungsführer der türkischen Delegation, Ismet Inönü, sprach ausdrücklich davon, daß "die Kurden keine Minderheit seien und daher wie die Türken einen Hauptbestandteil der Republik darstellten. Aus diesem Grunde repräsentiere die Regierung in Ankara sowohl die Türken als auch die Kurden". Den damals gleichbehandelten und als eigenständige Nation angesehenen Kurden wurden kurz nach der Ausrufung der Republik nicht einmal die Minderheitenrechte zuerkannt. Auch der Paragraph 39 des besagten Vertrages, der allen ethnischen Minderheiten die freie Anwendung ihrer eigenen Sprache in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zusichert, wurde mißachtet. Neben der kurdischen Sprache wurden auch die Sprachen der Minderheiten wie Lasen, Tscherkessen und Araber gänzlich verboten.
 
 
Die Republik Türkei hat sich auf einer rassistischen Weltanschauung formiert
 
Der türkische Staat formierte sich ideologisch und in Bezug auf das Erziehungs- und Bildungssystem auf einer rassistischen Grundlage. Deren Umsetzung wurde schon vom Staatsgründer Mustafa Kemal (Atatürk) begonnen.
 
Es gab zahlreiche Reden und Texte Atatürks, die dieses Weltbild prägten, darunter der Spruch "Glücklich sei der, der sagen kann, ich bin ein Türke!". Dieser Spruch steht heute noch insbesondere im kurdischen Siedlungsgebiet an allen Schultoren, geschrieben auf riesigen Flächen sogar an den von Weitem sichtbaren Berghängen.
Ein anderer sehr häufig zitierter Spruch Atatürks lautet: "Ein Türke ist so viel wert wie die ganze Welt!"
 
Die berühmte "Widmung Atatürks an die Jugend" fängt an mit "Hey, türkische Jugend" und endet mit dem Satz "Die Allmacht, die Du brauchst, existiert in dem in Deinen Adern fließenden edlen Blut!". Die Überlegenheit der türkischen Rasse und die Edle des türkischen Blutes kommen in der Literatur und Alltagssprache sehr oft vor. So werden Linke, Oppositionelle, usw., die Meinungen vertreten, welche mit der sogenannten "nationalen" Politik nicht übereinstimmen, öfters als "Blutlose" oder "Menschen verdorbenen Blutes" bezeichnet.
 
Seit Jahrzehnten müssen Schüler in allen Grundschulen des Landes jeden Morgen vor dem Unterrichtsbeginn einen Eid leisten, den sie im Chor sprechen müssen. Dieser Eid beginnt mit "Ich bin Türke, aufrichtig und fleißig" und endet mit dem Satz "Mein Leben ist dem Türkentum gewidmet!"
 
In Grund- und Mittelschulen sind die Unterrichtsbücher voll solcher rassistisch geprägter Sätze und Gedichte. Gedichte dieser Art werden bei allen nationalen Feierlichkeiten in Fernseh- oder Radiosendungen vorgetragen. Eines davon fängt mit dem Spruch "Ich bin ein Türke, meine Religion und Rasse sind erhaben!" an.
 
 
Ähnliche Züge trägt sogar die türkische Nationalhymne, in der die Rede von "meiner siegreichen Rasse" ist.
 
Während dieses Weltbild das Türkentum zu einer überlegenen Rasse erklärt, diskriminiert und erniedrigt es andere Völker, stellt sie somit als Feinde dar. Als 1930 der kurdische Aufstand von Ararat zerschlagen wurde, äußerte sich der damalige Justizminister Mahmut Esat Bozkurt auf einer Kundgebung zum Aufstand, daß "es sich dabei um einen Krieg zwischen zwei Rassen handele und dieser sei weder der erste noch der letzte" und führte weiter aus: "Wir leben im freiesten Land der Welt, nämlich in der Türkei. Der Türke ist der alleinige Herr und Besitzer dieses Landes. Diejenigen, die nicht zur reinen türkischen Rasse gehören, haben lediglich das Recht auf ein Diener- und Sklavendasein. Unsere Freunde sowie unsere Feinde, ja sogar die Berge sollen diese Tatsache wissen!" (19. September 1930, Tageszeitung Milliyet)
 
Der damalige Ministerpräsident und später Nachfolger von Atatürk als zweiter Staatspräsident der Türkei, Ismet Inönü, äußerte sich bei der Eröffnungsrede einer Eisenbahnlinie in der Provinz Sivas zum kurdischen Aufstand wie folgt: "In diesem Land hat nur die türkische Nation das Recht ethnische sowie rassische Rechte einzufordern und sonst niemand." (Tageszeitung Milliyet vom 31. August 1930).
 
Es können noch zahlreiche Beispiele dieser Art genannt werden. Auf höchstpersönliche Anordnung von Mustafa Kemal wurden wissenschaftliche Untersuchungen über die türkische Rasse durchgeführt. Während des Dritten Reichs, in dem die Nationalsozialisten die Macht ausübten, wurden aus Deutschland Instrumente zum Ausmessen von menschlichen Schädeln importiert. Männer, die kurzerhand einen Professorentitel erhielten, entwickelten auf Grund der Direktiven eine Reihe von unwissenschaftlichen Thesen in Bezug auf die typischen Merkmale der Türken wie Augenfarbe, Schädelform, Blutgruppe usw.
 
Wiederum wurden von türkischen Geschichts- und Sprachwissenschaftlern eigens nach Direktiven Atatürks hochinteressante Thesen der "Türkischen Geschichtstheorie" und "Sonnen-Sprach-Theorie" aufgestellt. Gemäß dieser Theorie stammen alle Völker von Türken ab und alle Sprachen vom Türkischen. Diese leeren Floskeln wurden jahrzehntelang als Thesen in der türkischen Geschichtsschreibung und Kulturforschung vertreten.
 
 
Die Verfassung von 1982 untermauert weiterhin das bestehende Weltbild
 
Das türkische Rechtssystem und die türkische Politik wurden jahrzehntelang auf dieser chauvinistisch-nationalistischen Grundlage entwickelt.
 
Das Präambel der Verfassung von 1982 beginnt mit den folgenden Sätzen: "Diese Verfassung, die die ewig währende Existenz des türkischen Vaterlandes und des türkischen Volkes festlegt und die unteilbare Einheit des hoch erhabenen türkischen Staates bestimmt, ... nach dem vom Gründer der Republik Türkei, dem unsterblichen Führer und unvergleichlichen Helden Atatürk entwickelten Nationalismusver- ständnis und seiner Revolution und Prinzipien ..." und wird weitergeführt: "Keine Meinung und Weltanschauung gegen die Geschichte des Türkentums und seiner moralischen Werte und gegen den von Atatürk festgelegten Nationalismus dürfen vertreten werden. Diese können auch keinen Schutz genießen."
 
Durch die oben aufgeführten Beispiele dürfte es ausreichend deutlich geworden sein, welcher Fanatismus und Chauvinismus sich hinter dem "Nationalismus Atatürks" verbergen. Diese heute noch gültige Verfassung bringt offen zum Ausdruck, daß sie diese Auffassung sichert und keine andere "Meinung und Weltanschauung" zuläßt.
 
Es ist offensichtlich, daß in einem solchen Land die Meinungs- und Glaubensfreiheit nicht existieren kann. Diese Verfassung macht deutlich, daß alle anderen Meinungen, Gedanken und alle von der zulässigen Richtung abweichenden Tendenzen im Namen des "Kemalismus und Nationalismus" verfolgt und vernichtet werden. Dieses wird seit Jahren so praktiziert. Zur Zeit sitzen aus diesem Grunde mehr als 170 Schriftsteller, Journalisten und Wissenschaftler in türkischen Gefängnissen. Gegen weitere Hunderte wird ermittelt. Sie müssen mit hohen Strafen rechnen. Das sind die konkreten Beispiele dieser Politik.
 
Der Eid, den die Abgeordneten gemäß Paragraph 81 der türkischen Verfassung im neugewählten Parlament leisten müssen, hat ebenso einen unzeitgemäßen nationalistischen und antidemokratischen Charakter. Im Rahmen dieses Eids müssen die Abgeordneten unter anderem folgenden Satz aussprechen: "Ich schwöre vor der großen türkischen Nation auf meine Ehre, daß ich den Prinzipien und der Revolution Atatürks treu bleiben werde!"
 
Diesen Eid müssen, wie alle anderen, auch die kurdischen Abgeordneten schwören. Sie müssen dadurch ihre Verbundenheit zu einer Weltanschauung, die unter anderem auf Kurdenfeindlichkeit basiert, und zur "großen türkischen Nation" bekunden. Als Folge dieses Eids wurde im Jahre 1991 die neugewählte kurdische Abgeordnete Leyla Zana von der aufgebrachten Mehrheit der anwesenden Parlamentarier als Landesverräterin verunglimpft und beschimpft, weil sie während ihrer Vereidigung von Völkerfreundschaft sprach. Frau Zana wurde später u.a. aus diesem Grund zusammen mit einer Gruppe kurdischer Abgeordneter, die ebenfalls neugewählt waren, aus dem Parlament heraus inhaftiert und zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die sie noch heute verbüßt.
 
Ein System, das auf der Leugnung der Existenz der Kurden, ihrer Sprache, Kultur und Geschichte basiert
 
Wie in der Vergangenheit unterliegt die kurdische Gesellschaft auch heute unterschiedlichen Maßnahmen der türkischen Rassentheorie und Weltanschauung. Die kurdische Sprache und Kultur unterliegen weiterhin einem Verbot. Nach der offiziellen türkischen Ideologie gibt es kein Volk mit der Bezeichnung Kurden! Somit haben Kurden auch keine Geschichte! Nach Ansicht des Regimes in Ankara gibt es keine Sprache Kurdisch, obwohl die kurdische Sprache trotz aller unvorstellbaren Repressalien sich bis heute am Leben erhalten konnte. Trotz eines breitgefächerten Spektrums und unzähligen Produkten einer reichen Folklore und schriftlichen Literatur in kurdischer Sprache gibt es nach der Behauptung dieses Regimes diese Sprache nicht.
 
Obwohl rund ein Drittel der Einwohner der Türkei, d.h. über 20 Millionen Menschen, Kurden sind, gibt es keine einzige Schule, in der Kurdisch unterrichtet wird. Die Anwendung der kurdischen Sprache im Bildungswesen ist verboten. Vor nicht langer Zeit hat die von Kurden ins Leben gerufene Stiftung KÜRT-KAV (Stiftung für kurdische Kultur und Forschung), die Initiative ergriffen, Kurdischkurse anzubieten. Trotz einer positiven Entscheidung des Obersten Gerichtshofes verweigert das Ministerium für nationale Erziehung die Genehmigung für diese Kurse.
 
In diesem Jahr versandte die amtierende türkische Innenministerin Meral Aksener ein Dekret mit dem Vermerk "streng geheim" an alle Gouverneure und Polizeipräsidien der Provinzen sowie Gendarmeriekommando- zentralen. Mit diesem Dekret ordnete sie an, "administrative und rechtliche Maßnahmen gegen solche Personen einzuleiten, die Alphabetisierungskurse in Kurdisch anbieten und Forschung mit dem Ziel betreiben, die kurdische Sprache zu verbreiten und sie zu einer Schriftsprache zu entwickeln." (Wochenzeitung HEVI, 8. März 1997, Istanbul)
 
 
Sendungen in Kurdisch und Verbreitung der kurdischen Musik sind nicht erlaubt
 
Fernseh- und Radiosendungen in kurdischer Sprache sind heute noch nicht möglich. Die Verwendung des Kurdischen auf politischen Veranstaltungen ist per Gesetz unterbunden und wird strafrechtlich verfolgt.
 
Die Herausgabe von kurdischen Musikkassetten wurde vor 5 - 6 Jahren pro forma genehmigt. De facto wird das Verbot jedoch aufrechterhalten. Fast jede Musikkassette wird sofort nach der Herausgabe beschlagnahmt oder von der Polizei willkürlich "sichergestellt". Den Musikgruppen oder Musikern sowie Künstlern, die kurdische Musik zu verbreiten versuchen, wird nur in Ausnahmefällen die Genehmigung für ein Konzert erteilt.
 
Die Herausgabe von Zeitschriften und Zeitungen in kurdischer Sprache war jahrzehntelang untersagt. Wenn jemand mit einem Buch festgenommen wurde, das in Kurdisch oder über Kurden geschrieben war, konnte er sogar mit einer Todesstrafe rechnen. Gegen diese Maßnahmen des Staates haben sich die kurdischen Intellektuellen in den vergangenen Jahren gewehrt. Auch der Druck von Seiten Europas auf die türkischen Regierungen hat zu einer vorübergehenden Lockerung der Administration geführt, so daß zur Zeit trotz Beschlagnahmen und Verboten Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher in Kurdisch veröffentlicht werden können. Mit allen Mitteln versucht die Administration jedoch, den Verkauf oder den Vertrieb dieser Publikationen zu verhindern. Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher, die ganz oder teilweise in Kurdisch geschrieben sind und in einer Metropole wie Istanbul unter sehr schwierigen Bedingungen herausgebracht werden können, werden entweder gleich nach dem Erscheinen oder wenn sie noch im Druck sind, beschlagnahmt. Diese Publikationen in Kurdistan zu vertreiben oder dorthin zu bringen, ist beinahe gefährlicher als Bomben zu transportieren. Autoren und Herausgeber dieser Publikationen werden zu Freiheits- und Geldstrafen in astronomischen Höhen verurteilt. In den letzten Jahren wurden zahlreiche engagierte Journalisten ermordet, Büros von Zeitungen überfallen und in Brand gesteckt und zerstört.
 
Türkische Intellektuelle und Schriftsteller, die diese Praktiken und Politik kritisieren, sind ebenfalls einer massiven Verfolgung ausgesetzt.
 
 
Begriffe wie "Kurde" oder "Kurdistan" sind aus dem türkischen Wortschatz verbannt
 
Das heutige System, das sich nach der Gründung der Republik im Staats- und Kulturwesen ausschließlich nach der türkischen Ethnie organisierte, ist nicht nur gegen die kurdische Sprache und Kultur vorgegangen, sondern hat als Konsequenz seiner Politik auch die Verwendung der Begriffe "Kurde/Kurdisch" und "Kurdistan" untersagt, um die kurdische Existenz zu auszulöschen. Diese Begriffe wurden aus Büchern und Lexika entfernt. Sogar die bekannte Blätterteigsspezialität wurde von "kurdisches Börek" in "türkisches Börek" umbenannt.
 
Auch heute gilt die Verwendung der Begriffe "Kurde/Kurdisch" und "Kurdistan" in veröffentlichten Texten, politischen Artikeln, Romanen oder Gedichten als eine strafbare Handlung und kann sogar als eine terroristische Straftat eingestuft werden. Gleichgültig, ob darin die Rede von der Natur, Schönheit oder Liebe ist. Die Verwendung eines dieser Wörter kann genügen, um Zeitungen, Zeitschriften und Bücher zu beschlagnahmen und die betroffenen Menschen vor Gericht zu stellen. In dieser Hinsicht können Vergleiche zwischen dem türkischen Rechtssystem sowie Hochschulwesen und den Strukturen der mittelalterlichen Inquisitionszeit gezogen werden.
 
In ihrem Bemühen, die kurdische Kultur und Geschichte aus dem Gedächtnis der Menschen zu löschen, hat das Regime in Ankara zahlreiche wertvolle literarische Werke aus früheren Epochen und teilweise auch wichtige historische Werke zerstört. Seltene historische Inschriften an den Denkmälern wurden unkenntlich gemacht. Diese Politik widerspricht dem heutigen Kulturverständnis und Zeitgeist. Es ist purer Vandalismus gegenüber der Menschheit.
 
 
Geographische Bezeichnungen und Namengebung in Kurdisch sind verboten
 
Das Regime hat alle, teilweise historischen, Namen kurdischer Dörfer, Groß- und Kleinstädte geändert und ihnen türkische Namen gegeben. Das hat zu einer erheblichen Verunsicherung und großen Begriffsverwirrung unter der kurdischen Bevölkerung geführt. Menschen haben Schwierigkeiten, die neuen Namen ihrer Nachbarorte, ja oft sogar ihrer eigenen Heimatorte richtig zuzuordnen.
 
Das Regime hat es nicht dabei belassen und hat den Kurden sogar verboten, ihren Kindern kurdische Namen zu geben. Früher gegebene Namen wurden oft sogar per Gerichtsbeschluß und durch Repressalien auf die Eltern zwangsweise geändert. Hinzu kommt, daß diese Praxis bis nach Europa ausgeweitet wurde.
 
 
Auch in Europa werden die kurdischen Migranten diskriminiert
 
Seit Jahren liegen den Standesämtern verschiedener europäischer Staaten Namenslisten von türkischen Auslandsvertretungen vor. Für die türkischen Staatsangehörigen ist Vorschrift, bei der Namengebung der Neugeborenen, einen Namen aus der vorgelegten Liste auszuwählen. Interessant ist, daß diese Praxis von vielen europäischen Ländern ohne Rücksicht auf das elementare Menschenrecht übernommen wurde, womit sie sich zum Mittel der Politik und antidemokratischen Praxis der Türkei machen lassen.
 
Eine andere antidemokratische Praxis europäischer Länder in Bezug auf die Kurden betrifft Fernseh- und Radiosendungen und den muttersprachlichen Unterricht in Kurdisch. Im allgemeinen haben die größeren Migrantengruppen die Möglichkeit, täglich oder wöchentlich von öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehanstalten Programme in ihrer Muttersprache zu empfangen. Obwohl Kurden in den jeweiligen europäischen Ländern eine zahlenmäßig große Migrantengruppe bilden, wird ihnen mit der Begründung, daß sie keinen eigenen Staat haben, dieses Recht verwehrt. Dies ist insofern nicht hinnehmbar, weil dieses Recht nicht Staaten sondern Menschen zustehen sollte. Für Migrantengruppen, die einen eigenen Staat haben, besteht keine dringende Notwendigkeit. In einer Zeit der technischen Revolution haben die meisten dieser Migrantengruppen mit Eigenstaatlichkeit die Möglichkeit, via Satellit regelmäßig mehrere Heimatsender zu empfangen. Kurden haben nicht einmal diese Möglichkeit. Daher haben sie Fernseh- und Radiosendungen ihrer Gastländer nötiger als andere Migrantengruppen.
 
Weiterhin wird in europäischen Ländern den Migrantengruppen die Möglichkeit zum muttersprachlichen Unterricht in den öffentlichen Schulen angeboten, wobei auch dieses Recht - mit wenigen Ausnahmen - den Kurden verwehrt bleibt.
 
Als ob die Verbote und Unterdrückungsmaßnahmen der Staaten Türkei, Irak, Iran und Syrien nicht hinreichend wären, legen auch westliche Länder mit ähnlicher Praxis eine Haltung zugrunde, die dem europäischen Geist widerspricht. Wie kann diese Politik mit Motto der Europäischen Union "Europa der Regionen und Kulturen" vereinbar sein. Diese Haltung negiert leider die Zukunftsvision der zukünftigen Europa und trägt dazu bei, das Unrecht des Regimes in Ankara zu stärken.
 
 
Kurdische Nationalfarben dienen nach diesem Verständnis dem "Separatismus"
 
Die türkische Regierung betrachtet sogar die Kombination der kurdischen Nationalfarben grün, gelb und rot als Stärkung des "kurdischen Nationalismus". Für die Europäer lächerlich aber wahr ist, daß in manchen kurdischen Städten, wie z.B. Batman und Van, aus diesem Grund eine Zeitlang bei den Verkehrsampeln die grüne Farbe durch blau ersetzt wurde. Die türkischen Sicherheitskräfte entfernen sogar Schaufensterdekorationen, falls zufällig diese Farbkombination entstanden ist. Ein türkischer Angeordneter hat sogar eine Strafanzeige gegen einen Gärtner einer Parkanlage eingeleitet, weil er in dieser Grünanlage die Farbkombination entdeckt hat. Für den Abgeordneten hatte der Gärtner "Separatismus" betrieben.
 
Im Land herrscht eine Schizophrenie. Nachdem es den Machthabern mißlungen ist, diese Farben aus dem kurdischen Alltag zu verbannen, haben sie vor kurzem diese Farben für sich "entdeckt", sie kurzerhand zu türkischen Nationalfarben erklärt und während der kurdischen Neujahrsfeierlichkeiten Newroz am 21. März 1997 mit massiver staatlicher Propaganda unters Volk gebracht.
 
 
Parteien und Organisationen kurdischer Prägung haben keine Chancen zur freien Betätigung
 
Im Anbetracht der Tatsache, daß Kurden im gesellschaftlichen Leben ihre eigenständige Identität nicht kundtun können, versteht sich von allein. Auch ihre Organisationen mit politischer und kultureller Prägung, durch die sie ihren Rechten und Forderungen Nachdruck verleihen möchten, werden verfolgt und meistens verboten. Diesbezügliche Initiativen zählen strafrechtlich zu schweren separatistischen Taten, die "der Teilung des Vaterlandes und der Nation" dienen. In der Vergangenheit wurden von Kurden ins Leben gerufenen Kulturvereine sogar verboten, deren Mitglieder schweren Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt und zu hohen Strafen verurteilt.
 
Kritik an der bislang geführten Kurdenpolitik, das Fordern kultureller Rechte für Kurden oder die Meinung, daß außer der türkischen Kultur auch andere Kulturen existieren, können zum Verbot einer politischen Partei führen. Bislang sind vom Verfassungsgericht zahlreiche politische Parteien verboten worden. Paragraph 81 des türkischen Parteiengesetzes lautet wörtlich:
 
"Die politischen Parteien
 a) dürfen nicht behaupten, daß es innerhalb des Staatsgebietes der Republik Türkei Minderheiten existieren, deren Unterscheidungs- merkmal auf nationaler und religiöser Kultur oder Rasse oder Sprache beruht;
 
b) dürfen auf dem Staatsgebiet der Republik Türkei keine Minderheiten schaffen, indem sie eine sich von der türkischen Sprache und Kultur unterscheidende Sprache und Kultur bewahren, sie weiterentwickeln oder verbreiten, um das Ziel zu verfolgen, die Einheit der Nation zu zerstören oder in dieser Richtung Aktivitäten zu entfalten;
 
   c) dürfen im Niederschreiben und Veröffentlichen ihrer Satzung und ihres Programmes sowie auf ihren Parteitagen, ihren Versammlungen im Freien oder in geschlossenen Räumen, ihren Kundgebungen und bei ihrer Propaganda eine sich vom Türkischen unterscheidende Sprache nicht verwenden; dürfen keine Transparente und Schilder sowie Schallplatten, Ton- und Videobänder, Broschüren und Bekanntmachungen in einer sich vom Türkischen unterscheidenden Sprache verwenden und verteilen; dürfen nicht untätig bleiben, wenn solche Aktionen und Vorgehensweisen durch andere wahrgenommen werden. Es ist jedoch möglich, die Satzung und das Programm in eine nicht durch das Gesetz verbotene Fremdsprache zu übersetzen."
 
"Per Gesetz verbotene Sprachen ..."
 
Offensichtlich ist in diesem Paragraphen die Rede von "per Gesetz verbotenen Sprachen". Hier wird auf die Paragraphen 26 und 28 der türkischen Verfassung von 1982 Bezug genommen.
Paragraph 26 der Verfassung lautet:
 
"Bei der Äußerung und Verbreitung von Meinungen darf eine durch Gesetz verbotene Sprache nicht verwendet werden."
 
Im Paragraph 28 heißt es:
 
"In einer durch Gesetz verbotenen Sprache dürfen keine Veröffentlichungen gemacht werden."
 
In den folgenden Jahren wurde gemäß dieser Paragraphen auch ein Gesetz erlassen, um diesen Verbot auszuführen. Damit das Kurdische nicht beim Namen zu nennen, wurde in diesem Gesetz die "verbotene Sprache<@148> wie folgt umschrieben: "Sprachen außer der ersten Amtssprache eines jeden Landes ..." Kurdisch ist im Irak weiterhin die zweite Amtssprache. Daher wurde die Regelung "erste Amtssprache" getroffen..
 
Somit ist die Türkei das erste und einzige Land der Welt, das eine Sprache per Verfassung verbietet. Es ist offensichtlich, wohin die Politik zur Ausrottung des kurdischen Volkes diesen Staat und dessen Gesellschaft geführt hat.
 
 
"Bergtürken" und Völkermord
 
Im Zuge ihrer oben beschrieben Politik führte der türkische Staat die Begriffe "Bergtürken" und "Bergtürkisch" ein, um nicht die verbotenen Begriffe wie "Kurden" und "Kurdisch" verwenden zu müssen. Im gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes wurden jahrzehntelang die Kurden zu Bergtürken erklärt. Beeindruckt von den Machenschaften des türkischen Regimes, hat der berühmte englische Autor Harold Pinter ein Theaterstück mit dem Titel "Bergsprache" geschrieben. Jedoch war es auch als "Bergtürke" nicht möglich, der Gewalt dieses Regimes zu entgehen. General Cemal Gürsel, der 1960 durch einen Putsch an die Macht kam und dann zum vierten Staatspräsidenten der Republik erkoren wurde, äußerte sich bezüglich der Kurden:
 
"Sollten die Bergtürken keine Ruhe geben, so wird die Armee nicht zögern, ihre Städte und Dörfer zu bombardieren und zu zerstören. Es wird solches Blutbad geben, daß sie und ihr Land nicht mehr existieren werden". (Schwedische Zeitung Dagens Nyheter, 16. November 1960).
 
 
Genau das ist es, was der türkische Staat seit einigen Jahren in Kurdistan zu verwirklichen versucht.
 
Es war unvermeidlich, daß diese despotische Politik zu einer Reaktion und zum Widerstand des kurdischen Volkes führen würde. Die Unterdrückungs- und Gewaltpolitik hat unausweichlich ihr Gegenbild geschaffen. Jahrzehntelang währende staatliche Gewaltpolitik hat die Gegengewalt hervorgebracht. und aus diesem Grund führt die Türkei seit Jahren einen Krieg gegen Kurden, die einen Partisanenkrieg führen.
 
In diesem Krieg hat die Türkei auch das Kriegsrecht mißachtet und schwere Verbrechen am kurdischen Volk und sogar an der gesamten Menschheit begangen. Die Türkei hat kurdische Dörfer, Städte und andere Siedlungen mit Hilfe von Panzern und Artillerie angegriffen und mit Kampfflugzeugen bombardiert, niedergebrannt und verwüstet. Rund viertausend kurdische Siedlungen wurden dem Erdboden gleich gemacht. Vier Millionen Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Menschen, die alles verloren haben, was sie besaßen, leben jetzt ohne Arbeit und Zukunftsperspektiven in Armenvierteln der Großstädte in großer Armut. Es wurden Wälder in Brand gesetzt, ja sogar chemische Waffen wurden eingesetzt. Türkische Soldaten ließen sich im Siegesrausch mit geköpften Partisanen fotografieren. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder schlimmsten Folterungen unterworfen. Es wurden sogar Massaker an Gefangenen begangen. Staatlich gelenkte Todesschwadronen haben Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen, die Täter sind immer "unbekannt".
 
Um diesen schmutzigen Krieg gegen die Kurden finanzieren zu können, verwandelte sich die Türkei in ein staatlich geschaffenes und gelenktes Rauschgift- und Glücksspielparadies.
 
Eine ähnliche Zerstörung und Vertreibung hatte zuvor schon die irakische Regierung unter Saddam in Irakisch-Kurdistan gegen die Kurden durchgeführt, was -auch wenn es ziemlich spät kam - international als Völkermord bewertet wurde. Gegenüber all dem, was die Türkei anrichtet, wird aber geschwiegen. Was muß eigentlich noch geschehen, damit sich die internationale Öffentlichkeit endlich bewegt? Etwa die Besetzung Kuwaits..?
 
 
Der Bericht des Nationalen Sicherheitsrates: Ein beispielloser Rassismus
 
Es sieht aber nicht so aus, als ob der türkische Staat es bei den bisherigen Maßnahmen beläßt. Vor kurzer Zeit wurde ein erschreckender Bericht des Nationalen Sicherheitsrates in der Öffentlichkeit bekannt. In diesem Bericht wird die steigende Zahl der Kurden in der Türkei als gefährlich eingestuft und darauf hingewiesen, daß die kurdische Bevölkerung im Jahre 2010 den Anteil von 40 % und im Jahre 2025 schon den Anteil von 50 % Prozent der Gesamtbevölkerung erreichen werde. In Anbetracht dessen würden die Kurden im Parlament die Mehrheit erringen. Dieser Gefahr müßte berücksichtigt und "radikale Maßnahmen" dagegen ergriffen werden. Als eine mögliche Maßnahme wird die Einführung von Steuern für jedes neugeborene Kind vorgeschlagen, also eine Art Geldstrafe.
 
Im selben Bericht wird darauf hingewiesen, daß 90 % der Angestellten im religiösen Sektor, 80 % der Gefängniswärter und 43 % der Lehrer kurdischer Abstammung seien. Auch das wird als eine Gefahr angesehen und die Regierung wird aufgefordert, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
 
Es ist nicht neu, daß die türkische Administration im kurdischen Gebiet keine Kurden als Beamte beschäftigen will. Sie hat aber dabei keinen Erfolg gehabt, weil türkische Beamte aufgrund schwieriger Lebensverhältnisse dort nicht arbeiten wollen. Die Region ist für die meisten ein Verbannungsziel. Auf der anderen Seite hat sich der türkische Staat über den Bevölkerungszuwachs der Türken nie beschwert, seit Jahren aber wird versucht, den Bevölkerungszuwachs der Kurden zu verhindern. Mit diesem Ziel wurden viele Maßnahmen ergriffen, darunter der Einsatz von Spiralen zur Empfängnisverhütung bei kurdischen Frauen oder die kostenlose Verteilung von Präservativen an Männer. Es ist offensichtlich, daß all diese Maßnahmen und die Vertreibung von Millionen von Kurden und zum Teil sogar Massenmorde noch nicht ausgereicht haben, so daß jetzt radikalere Maßnahmen gefordert werden. Welche könnten nun in Frage kommen? ...
 
Die Argumentation der türkischen Regierung für den seit Jahren gegen das kurdische Volk geführten schmutzigen Krieg ist die Terrorbekämpfung. Jedoch führt der Bericht des Nationalen Sicherheitsrates noch einmal ganz deutlich vor Augen, daß das, was Terror genannt wird, einerseits ein Produkt der Politik des türkischen Staates ist und andererseits ein Vorwand für seine Unterdrückungspolitik. Das eigentliche Ziel des türkischen Staates ist, die kurdische Identität und somit die innerhalb seiner Staatsgrenzen lebenden 20 Millionen Kurden auszurotten.
 
Als dieser Bericht der Regierung vorgelegt wurde, verlor ein Minister kurdischer Abstammung die Beherrschung und sagte, "er werde ihn nicht unterschreiben, weil dieser Bericht selbst separatistisch sei"
 
 
Diskriminierung der Kurden im Arbeits- und Berufsleben
 
Für eine Kurdin oder einen Kurden ist nur dann möglich, in eine systemtreue Partei einzutreten, ins Parlament zu kommen oder Minister zu werden, wenn sie oder er das repressive, antidemokratische und rassistisch motivierte System vollständig mitträgt, vor allem, wenn sich dieses System gegen das kurdische Volk richtet. Die Unterdrückung und Verachtung der Kurden erreicht jedoch manchmal ein Ausmaß, daß nicht einmal solche regimetreue Wendehälse aushalten können.
 
Wenn die Türkei aufgrund dieser Praxis wieder einmal in die internationale Kritik gerät, entgegnen die Vertreter der Türkei, die Kurden könnten auch am politischen Leben teilhaben. Sie hätten das Recht zu wählen und gewählt zu werden, ins Parlament zu kommen und sogar Ministerämter zu bekleiden. Das ist aber nur innerhalb des von diesem System gesetzten Rahmens möglich. Das heißt, unter der Voraussetzung, sich dem repressiven Regime zu beugen, alles von ihm ausgehende Unrecht zu befürworten und seine eigene Identität zu leugnen. Welches Gewaltregime akzeptiert dies nicht?
Doch trotz der Regimetreue ist es auch solchen Kurdinnen und Kurden nicht gestattet, in sensible Positionen des Staates zu gelangen. In Offiziersschulen und -akademien werden keine Kurden aufgenommen, hohe Positionen im administrativen Bereich der Außenpolitik sind den Kurden verschlossen. In den letzten Jahren ist auch bei den Sicherheitsbehörden, wie die Polizei, eine solche Praxis eingeführt worden. Für patriotische und intellektuelle Kurden, die nicht bereit sind, ihre Identität preiszugeben oder zu leugnen, ist eine Anstellung im öffentlichen Dienst völlig unmöglich. Für diese ist es sogar sehr schwierig, in der privaten Wirtschaft eine Anstellung zu finden. Im allgemeinen wird ein polizeiliches Führungszeugnis benötigt, und die Haltung der Polizei solchen Kurden gegenüber liegt auf der Hand.
 
 
Auch Newroz, das traditionelle Neujahrsfest der Kurden, ist verboten
 
Es würde wohl wundern, wenn ein solches Unrechtsregime das traditionelle Fest Newroz den Kurden nicht verbieten würde. Der türkische Staat hat, ähnlich wie beim Tag der Arbeit am 1. Mai, alles erdenkliche unternommen und viel Blut vergossen, um das am 21. März gefeierte kurdische Neujahrsfest Newroz zu verhindern. Am 21. März 1992 haben Angehörige der türkischen Streitkräfte und Polizei Menschenmassen, darunter viele Frauen und Kinder, die mit ihren traditionellen Festkleidern friedlich auf Straßen marschierten, unter Beschuß genommen. In kurdischen Städten wie Cizre, Nusaybin und Sirnak wurden auf diese Weise über hundert Menschen ermordet und weitere hunderte verwundet.
 
Das Feiern des Newroz-Festes wird heute verhindert. Das Regime hat jedoch erkannt, daß es Newroz nicht gänzlich verhindern kann und daß dieses traditionelle Fest für die Kurden zu einem Symbol des Widerstandes geworden ist. Nun versucht es, das Fest für sich in Anspruch zu nehmen und es von seinem eigentlichen Inhalt und der Bedeutung zu entleeren. Vor kurzem hat der türkische Staat Newroz zu einem türkischen Fest erklärt und begründet dessen Ursprung mit dem rassistischen Grauen-Wolf-Mythos (nach diesem Mythos sollen die Türken von einem grauen Wolf abstammen). Auf diese Weise wird Newroz nun als ein türkisches Volksfest von Angehörigen der Regierung, Parteifunktionären, Gouverneuren, Polizeipräsidenten und Generälen in rassistisch geprägten offiziellen Zeremonien gefeiert, während es den Kurden weiterhin untersagt bleibt.
 
Es ist ein bemerkenswerter Zufall, daß Newroz mit dem internationalen Anti-Rassismus-Tag am 21. März zusammenfällt. Und Kurden bringen an diesem Tag ihre Sehnsucht nach Frieden und Freiheit mit großer Begeisterung zum Ausdruck.
 
 
Es darf nicht Stillschweigen bewahrt werden
 
In Anbetracht der dramatischen Lage läßt sich sagen, daß die Kurden eines der Völker auf der Erde sind, und das Opfer größter nationaler Unterdrückung und rassistischer Diskriminierung sind. Und eines der Länder, die diese Politik gegen die Kurden betreiben, ist die Türkei, die Mitglied des Europarates und der OSZE ist. Die Türkei verletzt somit aufs gröbste das internationale Recht und ihre selbsteingegangenen internationalen Verpflichtungen. Mit dieser Politik lädt sie große Schuld gegen die Menschheit auf sich.
 
Die Europäische Union, die das Jahr 1997 zum Jahr zur Bekämpfung des Rassismus und Fremdenfeindlichkeit erklärt hat, darf nicht Stillschweigen bewahren angesichts der dramatischen Lage der Kurden, der schweren Menschenrechtsverletzungen und der rassistischen Praktiken der Türkei.
 
 
Das kurdische Volk braucht die internationale Unterstützung.
 
Alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sollten gegenüber der Türkei von ihrem Recht auf Durchführung von Sanktionen, das auf internationalen Vereinbarungen beruht, Gebrauch machen und sollten die Identität der in ihren Ländern lebenden kurdischen Immigranten anerkennen und sie mit anderen Immigrantengruppen gleichstellen, indem auch ihnen das Recht auf Radio- und Fernsehsendungen und muttersprachlichen Unterricht in Kurdisch gewährt wird. Dadurch können sie das in ihren eigenen Ländern herrschende Unrecht beseitigen.
 
Kemal Burkay
 Juni 1997

BERICHT
ÜBER DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN DER EU UND DER TÜRKEI
SOWIE DEN EU-BEITRITT DER TÜRKEI

 

Wie weit ist die Türkei auf dem Weg in die EU?

Wie weit ist die Türkei auf dem Weg in die EU?

Die Europäische Union hat eine lange Zeit ernsthafte Schritte für die Lösung der Zypern- und der Kurdenfrage sowie die Erfüllung der in den Kopenhagener Kriterien genannten Forderungen zur Bedingung für die Aufnahme der Türkei in den Kandidatenstatut für den EU-Beitritt gemacht. Doch die Türkei hat, scheinbar den Beitritt in die EU sehnlichst erwartend, sich beharrlich geweigert, die betreffenden Schritte nicht zu unternehmen.

Dieser Haltung zum Trotz hat die EU im Dezember 1999 bei dem Gipfel in Helsinki ihre Taktik geändert und die Türkei als Anwärter für die Kandidatur akzeptiert; mit der Begründung, dadurch die Türkei leichter beeinflussen und sie dazu bringen zu können, die geforderten Reformen zu realisieren.

Doch die Türkei hat ihre gewohnte Haltung fortgesetzt. Etwa ein Jahr nach dem Helsinki-Gipfel, am 8. November 2000, hat die EU der Türkei mit dem „Beitrittspartnerschaftsdokument“ einen Zeitplan für die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien und der Lösung der Zypernfrage vorgegeben. Dieses Dokument war außerordentlich kompromissreich. Die Kopenhagener Kriterien waren ausgedehnt worden, die Kurdenfrage wurde nicht beim Namen genannt. Dennoch kochten die türkischen Führer und die türkische Presse über vor Wut gegen die EU. Sie behaupteten, die EU wolle Zypern den Griechen schenken und die Europäer versuchten, die Türkei zu teilen.

Ministerpräsident Ecevit sagte: „Die Europäer haben uns betrogen!“

Außenminister Cem brauste auf: „Einige Europäer sehen uns als ihre Kolonie an und verhalten sich wie Kolonialherren!“

Es war offensichtlich, dass die türkische Führung weder zur Veränderung gewillt war, noch zur Lösung der Zypern- und Kurdenfrage. Auch hatte sie nicht vor, ihren Staatsbürgern zeitgemäße Menschenrechte zuzugestehen.

Schließlich präsentierte die Türkei, nachdem sie die EU hingehalten hatte und die gesetzte Frist verstreichen ließ, im März 2001 der EU ihren „Nationalbericht“, der eine Vielzahl der wichtigen, grundlegenden Forderungen im Beitrittspartnerschaftsdokument außer acht ließ.

Mit der Aussage, „die Türkei ist ein Unitarstaat, ihre offizielle Sprache ist Türkisch“, wurde die Existenz anderer Völker, Sprachen und Kulturen sowie die Gewährung von Rechten an diese Gruppen abgelehnt. Kulturelle Rechte wurden auf Individualrechte reduziert.

Auch wenn sie den Nationalbericht als ungenügend bewertete, hat die EU ihn als einen positiven Schritt angesehen und seine Haltung der „Motivation und Ermutigung“ fortgesetzt.

Hat die Türkei die Forderungen im Beitrittspartnerschaftsdokument erfüllt?
Was sagen die Veränderungen in der Verfassung aus?

In der folgenden Periode hat die Türkei, um einige Versprechungen im Nationalprogramm zu erfüllen, Veränderungen in der Verfassung vorgenommen. Ein Teil der im Jahr 2001 geplanten Veränderungen, die aus der Sicht der Demokratisierung einigermaßen tauglich waren, blieben im Nationalen Sicherheitsrat, also bei den Militärs, auf der Strecke. Die übrigen waren allenfalls Retuschen.

Eigentlich war die Verfassung von 1982, ganz so wie es die angesehensten Juristen und Anwaltskammern auch festgestellt haben, ein Produkt der Militärjunta vom 12. September. Sie war vom Anfang bis zum Ende antidemokratisch und es war unmöglich, sie durch einige Retuschen geradezubiegen. Sie war, wie Sami Selcuk, Vorsitzender des Revisionsgerichtes, es sagte, “eine Polizeisatzung” und es war notwendig, sie beiseite zu schieben und eine vollkommen neue Verfassung zu erarbeiten.

Die 1982er Junta-Verfassung war nicht dazu erlassen worden, um die Rechte und Freiheiten des Staatsbürgers zu garantieren, sondern ganz im Gegenteil, den repressiven Staat gegen den Staatsbürger zu schützen, den man nicht ernst nahm, dem man nicht traute und vor dem man sich fürchtete. Aus diesem Grund wurde sie zu einer Zwangsjacke, die die Rechte und Freiheiten so weit wie möglich einschränkte und unbrauchbar machte.

Diese Verfassung ist vom Anfang bis zum Ende mit einem rassistisch-chauvinistischen Verständnis geschrieben. Die Präambel ist eine unvergleichlich rassistische Tirade. Während die türkische „Rasse“ und Kultur in den Vordergrund gestellt und zu einem Fetisch erhoben wird, wird die Existenz anderer Völker und Kulturen verleugnet und steht ohne Schutz da.

Mit dieser “Verfassung” und ähnlichen anderen Gesetzen werden die Menschenrechte und Freiheiten diesen rassistisch-chauvinistischen Werten entsprechend eingeschränkt, das Recht auf Meinungs-, Presse-, Organisations- und Demonstrationsfreiheit eliminiert.

Dieses System ist antidemokratisch, repressiv und primitiv. Die Praxis übersteigt sogar das Maß an Geschmacklosigkeit und Willkür um ein Vielfaches. Das wird wohl der Grund sein, warum es in der Türkei keine Meinungsfreiheit gibt, andererseits jedoch zu jeder Zeit Tausende von politischen Häftlingen in den Gefängnissen der Türkei ihr Dasein fristen. Ausschließlich wegen ihrer Schriften und Reden werden Schriftsteller, Künstler, Politiker und auch einfache Bürger festgenommen, zu schweren Strafen verurteilt und geschunden. In diesem System werden ständig politische Parteien verboten. In diesem System sind friedliche Versammlungen und Demonstrationen vollkommen der Lust und Laune der Polizei und der Gouverneure überlassen. In der Praxis wird Regimegegnern dieses Recht niemals gewährt. In diesem System hört die Folter nicht auf. In diesem System besitzen weder das 20 Millionen Menschen zählende Volk der Kurden, noch die anderen Minderheitenvölker kulturelle oder nationale Rechte und Freiheiten. Forderungen dieser Art zählen zur schwerwiegenden Straftat der “Teilung von Vaterland und Nation” und werden gnadenlos bestraft. Das Gesetz für politische Parteien verbietet es sogar zu sagen, dass in der Türkei andere Sprachen als Türkisch und andere Kulturen existieren. Dies stellt ein Grund zur Schließung einer Partei dar.

Bekanntlich ist die Türkei in der Vormundschaft des Nationalen Sicherheitsrates, der über der zivilen Politik, der Regierung und dem Parlament steht und besondere Ermächtigungen besitzt. Es wurden keinerlei Veränderungen innerhalb dieser halb-militärischen Institution vorgenommen, die in Wahrheit den Wünschen der Generäle entsprechend agiert.

Ist die Türkei ein laizistisches Land?

Ebenso, wie das Regime in der Türkei nicht demokratisch ist, ist sie entgegen der Behauptungen auch nicht laizistisch. Sowohl die 15 bis 20 Millionen Aleviten, die in der Türkei leben, als auch die Yeziden werden unterdrückt. Auch die Assyrer und andere christliche Gruppen leiden darunter.

In den Schulen ist der Religionsunterricht ein Pflichtfach. Grundlage dieses Unterrichtes ist der sunnitische Islam. So sind alle, auch die Angehörigen anderer religiöser Gruppen wie der Aleviten, Yeziden und der Christen gezwungen, in den Schulen die Regeln, die Gebete und den Namaz (das rituelle Tagesgebet gen Mekka) des sunnitischen Islam zu lernen.

Der Staat stattet die Anstalt für Religionsangelegenheiten mit Tausenden von Mitarbeitern und einem großen Budget aus und zwingt der Gesellschaft nach eigenem Gutdünken eine bestimmte Ausrichtung des sunnitischen Glaubens (Hanefiten) auf.

Daneben existiert auch eine etwas privilegiertere islamische Schicht, die von Zeit zu Zeit zur Zielscheibe der Repressionen des kemalistischen Regimes wird, das meint, sich in den Glauben und den Lebensstil seiner Bürger einmischen zu dürfen. Die repressive Haltung des Regimes gegen das Kopftuch ist ein konkretes und lebendiges Beispiel der letzten Jahre dafür. Der Staat hetzt – je nach Situation – die islamische Bewegung manchmal gegen die Linke und die kurdische Nationalbewegung auf, manchmal erscheint sie ihr zu gefährlich und wird beschnitten.

Was hat sich an der Situation der Kurden geändert?

Die türkische Presse hat die Verfassungsänderung im Jahr 2001 mit lautem Gepolter als einen “Demokratisierungscoup” präsentiert. Angeblich sollten die Hindernisse vor Bildung und Sendungen in der Muttersprache aufgehoben werden. Doch weder entsprach das den Tatsachen, noch hatte das Regime einen solchen Willen. Tatsächlich wurden in der folgenden Zeit kurdische Kinder, Jugendliche und ihre Eltern, die Bildung in der Muttersprache oder Kurdisch als Wahlfach forderten, und die kurdischen Lehrer, die dies unterstützten, verschiedenen Repressionen ausgesetzt. Sie wurden beschuldigt, Mitglieder der “Terrororganisation” zu sein und eine von ihr gelenkte Kampagne durchzuführen. Hunderte wurden festgenommen, gefoltert und verhaftet. Die Gerichtsverfahren dauern noch an.

Genau in der Periode nach der Verfassungsänderung wurden auf Befehl des Innenministeriums kurdische Namen verboten. Diese Namen würden “nicht mit der türkischen Kultur zu vereinbaren sein”! Staatsanwälte haben in zahlreichen Provinzen Kurdistans wie auch im Westen der Türkei Verfahren eröffnet, um die Namen der kurdischen Kinder zu ändern.

Auch in dieser Periode wurden Zeitschriften, Zeitungen und Bücher, die ganz oder teilweise in Kurdisch waren oder die Kurdenfrage behandelten, konfisziert, gegen die Autoren und Herausgeber wurden Anklagen erhoben, Strafen wurden verhängt. Darunter befinden sich der berühmte Autor Ahmet Altan und der Dozent Fikret Baskaya. Diese Publikationen durften nicht nach Kurdistan eingeführt werden. Diese Praxis dauert heute noch an.

Selbst die Verfolgung der kurdischen Musik ging in dieser Periode weiter und wurde sogar verschärft. So wurde beispielsweise in Diyarbakir ein Minibusfahrer, der in seinem Minibus kurdische Musik abgespielt hatte, allein aus diesem Grund zu 3,5 Jahren Strafe verurteilt, weil er durch das bloße Abspielen der kurdischen Musik eine “terroristische Organisation unterstützt hatte”.

Der seit Jahren in Kurdistan herrschende Ausnahmezustand wurde bis auf Diyarbakir und Sirnak beendet. Doch in Wirklichkeit ist das Ausnahmezustandsrecht, das in den 24 Jahren Ausnahmezustand praktiziert wurde, nicht beendet. Die außerordentlichen Ermächtigungen, die den Gouverneuren und der Polizei mit verschiedenen Gesetzen ermöglicht wurde, gelten immer noch und rechtfertigen willkürlichen Praktiken. Die Situation wendet sich einfach nicht zur Normalität.

Die türkische Regierung plant den Ausnahmezustand ganz aufzuheben und an seine Stelle ein anderes außerordentliches System, das “Südost-Staatssekretariat” genannt wird, zu installieren. Dies bedeutet nichts anderes, als die Fortsetzung des Regionalen Ausnahmezustandsgouvernements unter einem anderen Namen. Anders gesagt, das Regime hat nicht vor, die Situation in Kurdistan zum Normalen wenden zu lassen.

Um die soziale und wirtschaftliche Situation in der Region zu verbessern, leistet das Regime nichts anderes als leere Worthülsen zu produzieren. Sie unternimmt keinerlei konkreten Schritte.

Eine der Schritte, die unternommen werden müssen, ist die Unterstützung der Millionen Menschen, deren Dörfer und Häuser während des schmutzigen Krieges zerstört und die dadurch zur Flucht gezwungen bzw. vertrieben wurden. Der Weg zur Rückkehr in ihre Dörfer hätte geebnet werden müssen, der Staat hätte sie beim Verbinden ihrer Wunden unterstützen müssen. Doch obwohl immer wieder gesagt wurde, dass die Erlaubnis zur Rückkehr in die Dörfer erteilt werden wird, findet in der Praxis eine systematische Behinderung dessen statt. Die Sicherheitskräfte des Staates, die Polizei, die Gendarmerie und die paramilitärischen Dorfschützer, erlauben eine Rückkehr nicht und bedrohen diejenigen, die zurückkehren möchten. Wer trotzdem zurückkehrt, ist Angriffen und Repressionen ausgesetzt und bereut seine Rückkehr. So wurden zum Beispiel vor Kurzem in dem Dorf Nureddin in der Region Mus, drei Personen, die in ihr Dorf zurückgekehrt waren und dort das Gras auf ihren Weiden schnitten, durch paramilitärische Dorfschützer ermordet. Gegen die Schuldigen wurde keine Strafverfolgung eingeleitet. Zuvor waren Bewohner des Dorfes Marinus bei Hakkari ermordet worden, als sie in ihr Dorf zurückkehrten, um die Walnussernte einzuholen. Zahlreiche Vorfälle dieser Art können aufgelistet werden.

Deswegen bleiben diejenigen, die aus der Vertreibung zurückkehren können, nur eine verschwindend kleine Minderheit. In den Vororten der Großstädte, wo sie Zuflucht finden, fristen die meisten ohne eine Unterkunft, ohne Arbeit oder Bildung ihr armseliges Dasein. Auf diese Weise ist das gesamte ländliche Gebiet Kurdistans noch weit von jeglicher Produktion entfernt und bleibt zerstört. Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit deprimieren die Bevölkerung in dieser Region.

Dieser Zustand und auch die Vorkommnisse, von denen oben beispielhaft die Rede ist, sind in der Presse und in der Weltöffentlichkeit registriert worden. Um es zusammenzufassen: Das Regime führt einerseits Reformen durch, um sich angeblich der EU anzupassen, andererseits vermeidet sie ernstzunehmende Veränderungen und wird in seinem Bestreben, das aktuell existierende repressive, primitive System zu schützen, noch aggressiver.

Dies ist nichts anderes als eine verlogene, doppelzüngige Politik.

Was wurde durch das „EU-Anpassungspaket“ erreicht?

Und das am 2. August 2002 im türkischen Parlament verabschiedete, aus 14 Artikeln bestehende EU-Anpassungspaket? Was wird tatsächlich damit erreicht?

Die türkischen Staatsmänner, Politiker und die regimetreuen türkischen Presseorgane jubeln lautstark, die Türkei hätte nun alle Forderungen, auch die in den Kopenhagener Kriterien genannten, erfüllt. Politiker wie Presse sprechen von „Riesenschritten“, die unternommen wurden. Die innere und äußere Öffentlichkeit wird einem noch nie da gewesenen Propagandabombardement ausgesetzt. „Der Ball ist nun im Feld der EU, sie muss der Türkei nun Termine für Verhandlungen geben“, sagen sie.

Doch die tatsächliche Situation ist wieder einmal ganz anders, als von ihnen dargestellt. Die unternommenen Schritte sind weit davon entfernt, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen. Auch ist es unklar, ob sie in die Praxis umgesetzt werden. Klar ist jedoch zweifellos, dass die Praxis wie die bisherige sein wird!

Was enthält das 14 Artikel umfassende EU-Anpassungspaket?

Einer der Artikel betrifft die Todesstrafe. Durch die Veränderung wird die Todesstrafe bis auf „Kriegssituationen oder drohende Kriegssituationen“ aufgehoben. Sicherlich ist das positiv. Seit 1984 wurde sowieso auf die Vollstreckung von gerichtlich erteilten Todesstrafen verzichtet, um nicht die Kritik der äußeren Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Aber das war auch nicht nötig, denn die Vollstreckung geschah auf anderem Wege. Beispielsweise haben Geheimorganisationen, die unter staatlicher Kontrolle stehen, die sog. „Morde unbekannter Täter“ verübt. In den vergangenen 20 Jahren wurden auf diese Weise Tausende von Intellektuellen und Demokraten, die dem Regime nicht passten, insbesondere kurdische Patrioten, ermordet. Die Täter blieben für immer unbekannt. Ein anderer Weg ist die offene Hinrichtung durch die Exekutive des Staates, die Polizei und das Militär. Auf dem Lande, in Städten, in den Gefängnissen oder selbst in den Wohnung der Opfer, vor den Augen der Öffentlichkeit kam es so zu zahlreichen extralegalen Hinrichtungen von Tausenden unschuldiger Menschen, die nichts mit Terror zu tun hatten.

Wir denken nicht, dass solche Praktiken ein Ende finden werden. Am 15. August 2002 hat das Büro des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir erklärt, dass in den vergangenen zwei Monaten allein in Kurdistan 10 weitere Menschen durch „Hinrichtungen ohne Verurteilungen“ und durch „Morde unbekannter Täter“ getötet wurden.

In der Türkei ist Folter angeblich verboten und eine Straftat. Doch die Mühlen des Folters drehen sich ununterbrochen und systematisch weiter.

Demonstrationen sind angeblich frei. Doch noch im vergangenen Jahr wurden diejenigen, die für den Frieden demonstrieren wollten, brutal verprügelt.

Eine der durch das EU-Anpassungspaket durchgeführten Änderungen betrifft die Bildung in der Muttersprache. Diese Änderung erlaubt weder dem kurdischen Volk, noch anderen Gruppen, die eine andere Sprache sprechen als Türkisch, das Recht auf Bildung in der Muttersprache. Ein Drittel der Bevölkerung der Türkei, also 20 Millionen Kurden die die erdrückende Mehrheit in ihrem Land Kurdistan stellen, dürfen keine Bildungseinrichtungen haben, die in ihrer Muttersprache unterrichten. Es wird keine Grundschule, keine Mittelschule, keine Oberschule geben, die in Kurdisch unterrichtet. Für die Interessenten wird es außerhalb der Unterrichtszeiten „Kurse zum Erlernen von Sprachen“ geben. So, als würde man Japanisch oder Englisch lernen. Selbstverständlich wird der Staat hierfür nichts ausgeben. Diese Kurse werden privat und gegen Gebühr angeboten.

Dies ist nicht das Recht auf Bildung in der Muttersprache, sondern eine gemeine Art, sich über Menschen lustig zu machen. Selbst das Recht von Kurden und anderen Migrantengruppen in verschiedenen europäischen Staaten, Muttersprachlichen Unterricht zu erhalten, geht weit darüber hinaus. In Staaten wie Schweden und Deutschland gibt es beispielsweise sogar Kindergärten, die Bildung in der Muttersprache anbieten. In diesen Ländern, in Holland und in anderen Ländern Europas auch haben kurdische Kinder das Recht, in ihrer Muttersprache auf Grundschulniveau unterrichtet zu werden. Dieser Unterricht findet in den Schulen statt und die Gehälter des für diese Aufgabe eingestellten Lehrpersonals wird vom Staat bezahlt. In Schweden gibt es beispielsweise auch eine Schule, in der Lehrer für Kurdisch ausgebildet werden.

Diese Rechte sind den etwa 30 bis 40 Tausend Kurden zuerkannt, die in den vergangenen Jahren als Flüchtlinge oder Arbeiter nach Schweden gekommen waren, viele von ihnen sind vor dem Folter und der Verfolgung des türkischen Regimes geflohen.

Das heißt also, dass die Türkei einen Drittel seiner Staatsbürger, 20 Millionen Kurden, die in Kurdistan die erdrückende Mehrheit darstellen, nicht für würdig genug hält, um ihnen dieses Maß an Recht auf Bildung zuzuerkennen. Dabei sind diese Menschen nicht einmal Einwanderer. Sie lebten bereits Tausende von Jahren vor den Türken, die sich von Zentralasien auf den Weg machten und Anatolien und Thrazien okkupierten, in diesem Land.

Bleibt noch zu sagen, dass es keine Überraschung wäre, wenn sogar die Realisierung dieser Kurse auf vielfältige Art verhindert würde.

Bei dem Recht auf Sendungen in der Muttersprache verhält es sich ähnlich. Angeblich sind die Hindernisse vor Sendungen in anderen Sprachen als Türkisch aufgehoben worden. Aber es wird jetzt schon mitgeteilt, dass dieses Recht nur sehr restriktiv und unter der Kontrolle des Staates umgesetzt wird. Allenfalls könnte es eine täglich 15 bis 30-minütige Sendung geben.

Ist das nicht lächerlich für ein Volk von 20 Millionen Menschen? Ist das die Art, wie das Recht auf Sprache und Kultur zuerkannt wird? Das ist, als würde man für einen Verdurstenden täglich ein halbes Glas Wasser als ausreichend ansehen.

Die Türkei hat die Beschlüsse des Lausanner Vertrages mit Füßen getreten
Nun versucht sie einen „Bypass“ um die Kopenhagener Kriterien zu legen

Als Begründung für die Verweigerung von grundlegenden kulturellen und politischen Rechten für die Kurden sagt das türkische Regime, die Kurden seien keine Minderheit. Sicherlich sind die Kurden keine Minderheit, denn sie sind in ihrem eigenen Land sogar die Mehrheit. In ihrem viergeteilten Land von der Größe Frankreichs leben rund 40 Millionen Kurden und davon 20 Millionen wiederum in Nordkurdistan, also innerhalb der Grenzen der Türkei. Wenn solch ein Volk als Minderheit angesehen würde, dann wäre das lächerlich. Die Wurzeln der Kurden reichen Tausende von Jahren in die Vergangenheit, sie haben eine eigene Sprache, Geschichte und ein eigenes Land. Mit den Türken, den Arabern und der Persern sind sie eine der vier großen Nationen im Nahen Osten. In der Lausanner Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg, bei der die Republik Türkei anerkannt wurde, sagte der türkische Repräsentant Ismet Pasa: „Kurden sind mit Türken die ursprünglichen Elemente unseres Landes. Minderheitenrechte werden diese hohe Nation nicht befriedigen. Die Regierung in Ankara ist die Regierung sowohl der Türken als auch der Kurden.“

Doch nach Lausanne haben sie die Kurden ignoriert. Nicht einmal Minderheitenrechte haben sie ihnen zuerkannt, ganz zu schweigen, dass Kurden als die „ursprünglichen Elemente“ bezeichnet wurden, also den Türken gleichgestellt. Der türkische Staat hat nicht einmal das im Lausanner Vertrag genannte Recht auf die eigene Sprache und Kultur umgesetzt.

In Artikel 39 des Vertrages von Lausanne heißt es: „Alle Staatsbürger der Republik Türkei können in Presse und Publikationen und in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ihre Muttersprache ohne jede Einschränkung nutzen.“

Das bedeutet also, dass für das Recht auf Presse und Publikation in Kurdisch und in den anderen Sprachen, Radio- und Fernsehsendungen eingeschlossen, weder der Eintritt in die EU, noch die Kopenhagener Kriterien notwendig sind. Dieses Recht steht ihnen durch den Lausanner Vertrag ohnehin schon zu. Doch die Türkei hat Beschlüsse dieses Vertrages rücksichtslos mit den Füßen getreten, die Publikation von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern in Kurdisch verboten und von Zeit zu Zeit selbst das Sprechen in Kurdisch verboten und diejenigen, die Kurdisch gesprochen haben, bestraft. Sie hat also sogar den „Gebrauch von Kurdisch in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens“ verboten. Wenn die Kurden gegen diese Ungleichheit und gegen die Unterdrückung ihre Stimme erhoben und Widerstand geleistet haben, wurden sie gnadenlos niedergeschlagen. Die Staaten, die den Lausanner Vertrag mit ratifiziert haben, blieben angesichts dieser Praktiken bloß Zuschauer.

Auch heute fährt die Türkei fort, den Vertrag von Lausanne mit den Füßen zu treten. Sie hat vor, bei ihrem Eintritt in die EU mit den Kopenhagener Kriterien ähnlich zu verfahren und versucht sie mit einem „Bypass“ zu umgehen.

Das EU-Anpassungspaket, wovon nun die Rede ist, stellt aus der Perspektive der Rechte und Freiheiten keine ernste Öffnung dar. Beispielsweise gibt es in zahlreichen Gesetzen wie dem Strafgesetz, dem Terrorbekämpfungsgesetz, dem Pressegesetz und dem Gesetz für politische Parteien unzählige Bestimmungen, die Rechte im Bereich der Meinung, des Glaubens, der Presse, der Organisation, der Versammlung und der Demonstration verhindern. Diese haben nach wie vor Gültigkeit.

Beispielsweise verbietet Artikel 81 des Gesetzes für politische Parteien, von der Existenz und der Schutzwürdigkeit anderer Sprachen und Kulturen als der Türkischen in der Türkei zu sprechen und sieht bei Zuwiderhandlung einen Grund für die Schließung der Partei.

Seit der Vergangenheit ist es verboten, bei Versammlungen von politischen Parteien und sogar von Vereinen Kurdisch zu sprechen. Daran hat sich nichts geändert. Folgerichtig hat die Wahlkommission direkt nach der Veröffentlichung des „Anpassungspaketes“ verlautbart, dass beim Wahlkampf für die anstehenden Parlamentswahlen am 3. November es verboten ist, andere Sprachen als Türkisch zu benutzen. Es wird also als ein Verstoß gegen die Wahlkampfregeln gewertet, wenn Parteien sich in Kurdisch an Kurden wenden, die die türkische Sprache nicht verstehen.

Dies macht deutlich, dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass auch in der Zukunft die Kritik an der Kurdenpolitik der Türkei, der Widerstand gegen die Repressalien, die Forderung nach Recht und Freiheit für das kurdische Volk wieder als eine Straftat bewertet wird, wieder als ein Versuch, „Staat und Nation“ zu teilen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass in Zukunft politische Parteien nicht deswegen geschlossen werden, weil sie sich dem Terror zuwenden oder den Terror unterstützen, sondern allein aufgrund ihrer Ansichten.

Es besteht kein Zweifel daran, dass von nun mannigfaltige Gründe gefunden werden, um Parteien und Vereine, die von Kurden gegründet werden und konstruktive Vorschläge für die Lösung der Kurdenfrage unterbreiten, an ihrer Arbeit zu hindern. So wird zum Beispiel Abdülmelik Firat, Vorsitzender der Partei für Rechte und Freiheiten (HAK-PAR), seit fünf Jahren daran gehindert, ins Ausland zu reisen. Auch nach dem jüngstem „Anpassungspaket“ hat sich an seiner Situation nichts geändert. Firat war in den vergangenen zwei Parlamentsperioden Abgeordneter und es laufen keinerlei Verfahren wegen einer Straftat gegen ihn.

Selbst die Reisefreiheit von Ausländern wird eingeschränkt, auch wenn es sich dabei um Diplomaten handelt, wenn der Reisegrund mit Kurden zusammenhängt. Das jüngste Beispiel dafür erlebten wir erst vor wenigen Tagen, kurz nach der Verabschiedung des „Anpassungspaketes“. Eine Gruppe von Abgeordneten und Mitgliedern der schwedischen Grünen, die über die Türkei in den Irak reisten, wurden am Grenzübergang Habur von türkischen Sicherheitskräften angehalten und zur Rückkehr gezwungen, obwohl die Gruppe im Besitz von gültigen Visa vom irakischen Konsulat war.

Es besteht kein Zweifel daran, dass von nun an Zeitschriften, Zeitungen und Bücher, die in Kurdisch erscheinen und von der Kurdenfrage handeln, konfisziert werden, ihr Vertrieb behindert wird, die Autoren und Herausgeber angeklagt werden und es Gefängnis- und Geldstrafen regnen wird.

Das jüngste Anpassungspaket hat nicht für ein Ende der Drohungen und der Repressionen gegen die Presse gesorgt, in mancherlei Hinsicht wurden sie sogar verstärkt. Beispielsweise wurde bei einigen Verstößen gegen das Pressegesetz die Gefängnisstrafe aufgehoben, jedoch wurde auf der anderen Seite die Geldstrafe erheblich erhöht, es sind Strafen bis zu 100 Milliarden Lira möglich. Das ist insbesondere für kleinere und mittlere Presseorgane tödlich. Das wird wohl auch der Grund sein, warum sogar Staatspräsident Sezer diese Veränderung als „widersprüchlich und maßlos gegenüber der Pressefreiheit und der Demokratie“ bewertete und vor dem Verfassungsgericht Widerspruch gegen diesen Artikel einlegte.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die kurdische Musik, Kultur und Lebensart auch weiterhin zum Ziel vielfältiger Unterdrückung werden wird und dass von dieser Unterdrückung auch die Freunde der Kurden und die demokratischen Türken wie auch Fremde betroffen sein werden.

Es besteht deswegen kein Zweifel daran, weil sich das System nicht geändert hat. Das System der labyrinthartigen Verbote besteht weiter fort.

Weitaus wichtiger ist es zu wissen, dass das Regime nicht zu einer Veränderung gewillt ist. Denn dieses Regime ist ein Regime der Unterdrückung und seine Ideologie, quasi sein Mörtel, sind rassistisch-chauvinistische Vorurteile. Das ist die grundlegende Besonderheit dieser Ideologie.

Die Führer dieses Landes – gestern wie heute - sind aus einem Guss, es gibt kein Unterschied zwischen ihnen. Es besteht kein Unterschied zwischen dem angeblich „demokratischen linken“ Ecevit und dem rassistischen Führer der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), Bahceli, der sich damit rühmt, der Rasse der Wölfe abzustammen. Justizminister Hikmet Sami Türk, der damit begonnen hat, die politischen Häftlinge in den F-Typ Gefängnissen in Isolationshaft zu stecken und sie physisch und moralisch zu vernichten, gehört der DSP an. Er ist es auch, der einige Vorschläge für demokratische Reformen im Anpassungspaket bis zur Unkenntlichkeit beschnitten hat. Innenminister Rüstü Kazim Yücelen, der kurdische Namen verboten hat, gehört der ANAP von Mesut Yilmaz an, der sich damit rühmt, für den EU-Beitritt zu sein.

Keine der Systemparteien, die im Parlament vertreten sind und seit Jahren zwischen Führung und Opposition hin und her wechseln, ist gegen diese rassistisch-chauvinistische Ideologie des Türkentums. Wäre sie dagegen, so würde sie nicht mehr existieren.

Keine der Parteien, die das Land bisher regiert haben, ist für die Anerkennung der Rechte der Kurden. Denn die nationale Politik in diesem Land basiert auf der Idee, andere als die Türken für null und nichtig zu erklären und zu vernichten. Nur so kann in der sogenannten „Türkei“, in Anatolien, Thrazien und Kurdistan, wo die große Mehrheit der Bevölkerung nicht türkisch ist, die große Nation der Türken erschaffen werden!

Die Armenier wurden zum Opfer des Völkermordes. Teile der Griechen in Thrazien wurden ermordet bzw. vertrieben. Lazen, Tscherkessen, Albaner und andere wurden zum großen Teil zwangsassimiliert. Die Zwangsassimilation der Kurden dauert nun über Hundert Jahre mit Methoden wie Völkermord, Vertreibung, Sprach- und Kulturverbot ununterbrochen an.

Der wirkliche Plan, den das türkische Regime für Kurdistan vorsieht und zu realisieren versucht, wurde vor zwei Jahren in türkischen Zeitungen unter dem Titel „Geheimer Aktionsplan“ veröffentlicht. Die Hauptziele dieses Plans sind Kurdistan kurdenfrei zu machen, die kurdische Sprache und Kultur zu vernichten und somit die Kurdenfrage auszuradieren. Staudammprojekte, die die historischen Städte Kurdistans, die fruchtbaren Landwirtschaftsregionen und die Täler mit den unvergleichlichen natürlichen Schönheiten unter den Fluten begraben werden, sind Teil dieses Plans. Die Architekten dieser Pläne, Ecevit eingeschlossen, sind die zivilen und militärischen Kader, die die Türkei von gestern bis heute führen. Verglichen damit sind der Österreicher Haider und der Franzose Le Pen nur Leichtgewichte. Folglich unterscheidet sich die türkische Führung, die heute vor den Türen der EU steht, nicht von ihren Vorgängern.

Im 20. und 21. Jahrhundert kann diese Unterdrückungspolitik nur mit Gewalt und Terror aufrechterhalten werden. Eine Politik, die zu nicht Enden wollenden inneren Spannungen führt, die Konflikte im In- und Ausland provoziert, die Ressourcen des Landes vergeudet und damit das Land in Unfrieden stürzt, die Einwohner ohne Brot und Arbeit lässt, dient auch nicht dem Nutzen des türkischen Volkes. Das türkische Volk ist, auch wenn es durch den seit Jahrzehnten wehenden Wind des Chauvinismus beeinflusst wurde und die Vorurteile zu einem bestimmten Maß mitträgt, für eine Veränderung. Es wünscht den Eintritt in die EU, die wirtschaftliche Entwicklung, Demokratie und Frieden. Das ist auch der Grund, warum das Regime dem türkischen Volk nicht vertraut und die ständige Kontrolle über das Volk braucht.

Das Regime, das dem kurdischen Volk die Freiheit vorenthält, enthält dem türkischen Volk die Demokratie vor. Es setzt auf Gewalt und hat kein Vertrauen in sich selbst.

Die Türkei wurde zur Geisel der Kurdenfrage

Es gab in den vergangenen Jahren zwei Hauptgründe für die türkische Führungsklasse, sich gegen die Demokratie zu wehren: der Kommunismus und die Angst vor Kurden. Damit ist der Regimewechsel und die Teilung gemeint. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus gab es keine Angst mehr vor dem Kommunismus, Russland wurde zu einem Wirtschaftspartner. Doch die Kurdenfrage ist nach wie vor ungelöst und so existiert die Angst vor der Teilung auch weiter. Diese Angst ist in eine unglaubliche Kurdenfeindlichkeit, in einen Zwang, die Kurden zu vernichten, ausgeartet.

Wenn jahrelang eine falsche Politik verfolgt und in diesem Sinne Krieg geführt wird, dann kann der Hass und das Wertesystem in Blutrache umschlagen. Davon freizukommen wird schwer sein.

So ist auch die Situation des türkischen Regimes. Sein Bestreben, die Kurden als Geiseln zu nehmen und sie zu vernichten, hat wie ein Bumerang das Regime zum Geisel der Kurdenfrage gemacht. Die Kurdenfrage ist zum Schlüssel geworden, der auch die anderen Probleme beeinflusst. Diese Politik ist es, die den Rassismus und den Militarismus in der Türkei nährt.

Diese Situation verdeutlicht nicht nur den großen Widerspruch zwischen dem kurdischen Volk und den Führern der Türkei, sondern gleichzeitig auch den großen Widerspruch zwischen dem türkischen Volk und seiner Führung.

Das Verständnis und die Art dieser Führung werden weder die Probleme der Türkei lösen, noch Frieden und Demokratie in das Land bringen. Auch werden sie die Durchsetzung der für die EU-Anpassung notwendigen ernsthaften und tiefgreifenden Veränderungen verhindern.

Deswegen sind die aktuellen Veränderungen lediglich eine Art Augenwischerei. Die Führer der Türkei sind Meister der Bauernschläue und Gerissenheit. Sie versuchen die Europäer auf die Weise hinters Licht zu führen, wie sie es seit Jahren mit dem eigenen Volk getan haben.

Was ist die Lösung in dieser Situation?

Ganz offensichtlich liegt die Lösung nicht darin, die Kurden von ihrem Freiheitswillen abzubringen oder sie zu vernichten, sondern darin, diesen falschen Weg zu verlassen. Die türkische Führungsriege muss ihre seit über Hundert Jahren verfolgte Politik des Genozids, der Unterdrückung und der Zwangsassimilation verlassen und die Rechte der Kurden anerkennen. Allen Bürgern der Türkei müssen Grundrechte und Grundfreiheiten zuerkannt werden. Der Versuch, die innere und äußere Öffentlichkeit und auch die Europäische Union zu betrügen und Augenwischerei zu betreiben, muss ein Ende haben. Stattdessen muss sich die türkische Führung tiefgreifenden und ernsthaften Veränderungen zuwenden.

Zusammenfassend gesagt sind folgende Schritte zu unternehmen:

Vorrangig gehören die für die EU-Mitgliedschaft verpflichtenden Kopenhagener Kriterien realisiert, ohne degeneriert oder umgegangen zu werden und ohne die innere und äußere Öffentlichkeit sowie die EU zu betrügen. Dafür sind folgende Schritte notwendig:

1.      Die Junta-Verfassung von 1982, die wie eine Zwangsjacke der Gesellschaft verpasst wurde, gehört auf den Müll. Eine demokratische, moderne Verfassung ist zu erarbeiten. In dieser Verfassung muss die Existenz des kurdischen Volkes, das einen Drittel der Population des Landes ausmacht, ebenso wie seine Rechte anerkannt werden.

2.      Außer der Verfassung sind alle anderen Gesetze, allen voran das Parteiengesetz, das Wahlgesetz, das Strafrecht, das Presserecht, das Versammlungs- und Demonstrationsrecht zu ändern. Das bedeutet eine Demokratisierung des gesamten Rechtssystems.

3.      Alle Meinungen und Gedanken müssen frei ausgedrückt werden dürfen, sofern dies friedlich geschieht. Die Pressefreiheit ist zu gewährleisten.

4.      Alle politischen Parteien, die nicht zu Gewalt aufrufen, sind frei zuzulassen.

5.      Der über Parlament und Regierung stehende Nationale Sicherheitsrat ist ebenso aufzulösen, wie die durch den Ausnahmezustand errichteten Staatssicherheitsgerichte.

6.      Damit das Land laizistisch wird, müssen die ungerechtfertigten, willkürlichen Eingriffe des Staates in den Glauben der Menschen beendet werden. Dazu ist

·         die Anstalt für Religiöse Angelegenheiten aufzulösen.

·         der Religionsunterricht als Pflichtfach aufzuheben.

·         die Repression wegen des Kopftuchs zu beenden.

7.      Die Sprache und die kulturellen Rechte des kurdischen Volkes und der anderen ethnischen Gruppen sind im Rahmen der Kopenhagener Kriterien anzuerkennen. Das kann nicht im Rahmen von Individualrechten angegangen werden. In den Kopenhagener Kriterien ist sowohl von Grundrechten, als auch von Minderheitenrechten die Rede.

Außerdem hatte die OSZE bereits im Juni 1990 - wieder in Kopenhagen - eine gemeinsame Entschließung herausgegeben, die durch den Außenminister der Türkei unterzeichnet wurde. In den darin enthaltenen Beschlüssen, wo schon die Rede von „nationalen Minderheiten“ und ihren Rechten war, findet sich folgende Auflistung:

·         die eigene ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zu artikulieren, zu schützen und zu entwickeln;

·         die eigenen Muttersprachen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben frei zu nutzen;

·         Institutionen und Vereine für die eigene Bildung, Kultur und Religion zu gründen und zu entwickeln.

In Artikel 33 dieser Entschließung heißt es:

·         Die unterzeichnenden Staaten verpflichten sich, die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität der nationalen Minderheiten auf ihrem eigenen Boden zu schützen und geeignete Bedingungen für die Entwicklung dieser Identitäten zu schaffen.

In Artikel 34. wird das Recht von nationalen Minderheiten auf Bildung in der Muttersprache behandelt und ausdrücklich gesagt, dass im Geschichts- und Literaturunterricht auch die Geschichte und Kultur der nationalen Minderheiten beinhaltet sein muss.

Wenn in den Kopenhagener Kriterien über den Rahmen der Minderheitenrechte nachgedacht wird, so muss diese im Jahre 1990 akzeptierte, gemeinsame und bindende Erklärung berücksichtigt werden.

In diesem Lichte besehen sind die Reformen, die die Türkei mit dem „EU-Anpassungspaket“ durchgeführt hat, derart oberflächlich, dass weder die sprachlichen, kulturellen und parteilichen Rechte der Kurden, noch der anderen nationalen Minderheiten angemessen berücksichtigt werden.

Aus der Perspektive der Kurden muss in der Türkei folgendes geschehen:

a) Kurdisch muss neben Türkisch als offizielle Sprache anerkannt und in allen privaten und öffentlichen Bereichen des Lebens frei benutzt werden.

b) Das Recht auf Bildung in der Muttersprache muss von der Grundschule bis zur Hochschule realisiert werden.

c) In staatlichen wie in privaten Radio- und Fernsehkanälen müssen ganztägige Sendungen realisiert werden.

d) Parteien und Vereine mit nationaler Identität müssen frei zugelassen werden.

Die grundlegende Lösung für die Kurdenfrage

Die grundlegende Lösung der Kurdenfrage übersteigt ganz offensichtlich den Rahmen der Kopenhagener Kriterien. Die Kurden sind mit ihrer Population von 40 Millionen und ihrem Land in der Größe Frankreichs zweifellos eine der großen Nationen des Nahen Ostens. Wenn diese Nation und dieses Land zwischen vier Staaten aufgeteilt ist, so kann das Problem nicht mit der Verleugnung und Vernichtung der Kurden gelöst werden, sondern durch Kritik an der Ungerechtigkeit, die den Kurden widerfahren ist und durch das Festhalten an den Prinzipien der Gerechtigkeit und der internationalen Normen.

Dies wiederum kann auf zwei Wegen verwirklicht werden:

Entweder entscheiden die Kurden mit ihrem freien Willen, sich zu trennen und ihren eigenen Staat zu gründen oder sie entscheiden sich freiwillig in den Staaten, in denen sie sich befinden, zu bleiben, und zwar auf der Grundlage der Gleichheit. Dies wäre in Form einer Föderation oder Konföderation möglich.

Wir, die Sozialistische Partei Kurdistans, bleiben trotz der mehr als einhundert Jahre andauernden, unglaublichen Barbarei und Ungerechtigkeit des türkischen Staates gegen unser Volk und trotz des von unserem Volk zu Recht empfundenen Hasses und der Wut realistisch.

Wir denken, dass das kurdische Volk mit den Völkern, mit denen sie Seite an Seite leben, bei geeigneten Bedingungen in einer föderativen Form zusammenleben können. Die Kurden im Irak haben diesen Weg gewählt. Auch im Hinblick auf Nordkurdistan bevorzugen wir diese Lösung, also das Zusammenleben mit dem türkischen Volk auf der Basis der Gleichheit, in einer Föderation.

Die Türkei erachtet für die knapp mehr als 100 Tausend Zyperntürken die von Griechenland akzeptierte Föderation aus zwei Regionen und zwei Gesellschaften als zu wenig und fordert eine Konföderation aus zwei Staaten. Aber warum ist sie nicht bereit, dieses Recht den 20 Millionen Kurden in Nordkurdistan, das 10 Mal größer ist als die Insel Zypern, zuzugestehen?

Eine dauerhafte Lösung der Kurdenfrage ist nur auf diese Weise, in einer föderativen Struktur auf der Basis der Gleichheit beider Völker möglich. Solch eine Lösung würde der Türkei den Frieden bringen und den Weg zu einer wahren Demokratie öffnen. Nur so kann die verworrene Lage in der Türkei, wo die Probleme von Tag zu Tag schwerer werden, gelöst werden.

Sowohl die Führer der Türkei, als auch die europäischen Staaten müssen realistisch sein und die Kurdenfrage in ihrer wahren Dimension in die Hand nehmen. Diese Frage kann nicht mit lächerlichen und oberflächlichen Methoden wie Sprachkursen oder täglich halbstündigen Fernsehsendungen gelöst werden. Das sind nicht Lösungen, die einer Nation präsentiert werden können. Sie sind ehrverletzend und das kurdische Volk wird diese Angebote niemals ernst nehmen.

Andererseits ist, wie bereits gesagt, die führende Klasse, Regierung wie Opposition weder fähig, noch gewillt, solch eine grundlegende Kehrtwende zu vollziehen. Was ist dann zu machen?

Wir denken, dass die Antwort auf diese Frage offensichtlich ist: Bis die Kräfte, die diese Kehrtwende vollziehen können, an die Macht kommen, wird sich die Depression in der Türkei vertiefen. Beide Völker – Kurden wie Türken – werden darunter leiden. Weder der Kampf des kurdischen Volkes für Freiheit, noch der des türkischen Volkes für Demokratie, wird enden. Anders ausgedrückt hängt die Lösung, die in einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung liegt, davon ab, ob die wirklich reformwilligen demokratischen Kräfte an die Führung gelangen. Wie viel Zeit das beanspruchen wird, wissen wir nicht.

Die EU muss an ihren Normen und Prinzipien festhalten

Wie soll sich die Europäische Union in einer solchen Situation verhalten?

Wir vertreten die Ansicht, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wirklich erst dann aufgenommen werden sollten, wenn die Kopenhagener Kriterien tatsächlich erfüllt und in diesem Rahmen ernstzunehmende Schritte zur Lösung der Kurdenfrage unternommen worden sind. Es ist offensichtlich, dass die Türkei dies nicht getan hat.

Einer Türkei, die Menschenrechte respektlos verletzt und dem kurdischen Volk sogar die einfachsten Grundrechte verweigert, den Weg zu Beitrittsverhandlungen zu öffnen hieße, sie in ihrer Haltung, die Normen der EU zu verletzen und ihre Repressionsmaschinerie fortzusetzen, zu ermutigen. Es wäre die Belohnung für die Unterdrückung und die Ungerechtigkeit, für Rassismus und Militarismus.

Die EU sollte diesen Fehler nicht machen.